Flucht. Benjamin Withmer
musst das nicht mit jedem machen, den du triffst«, merkt Garrett zu Stanley gewandt an. »Nicht mit jedem.«
»Machen Sie dem Jungen ein Bier auf«, sagt Stanley zum Barkeeper. Und der erfüllt ihm den Wunsch. Dann sitzen sie einfach so da und trinken still ihr Bier, bis Stanley es nicht mehr aushält. »Was ist los, Junge? Was willst du hier?«, fragt er.
»Der Große hat eine Halsentzündung und die Kleine verträgt nur Milchersatz, wenn sie überhaupt etwas bei sich behält. Die meiste Zeit schreit sie anstatt zu essen.«
»Was machst du dann hier draußen?«
»Autounfall vorne an der Ecke.« Garrett legt die Hand auf seine Kameratasche. »Habe alles im Kasten. Gegen ein Bier wird meine Frau nichts haben.«
»Doch, wird sie.«
Garrett nimmt einen großen Schluck. Einen sehr großen. Ungefähr die halbe Flasche. »Sie wird es nicht erfahren.«
»Doch, wird sie.«
»Verdammt.« Garrett sieht aus, als hätte er gerade einen Blutklumpen verschluckt. Mit diesem Ausdruck im Gesicht trinkt er sein Bier aus. »Wird das irgendwann mal einfacher?«
»Für mich ist es einfacher geworden.« Stanley ordert zwei weitere Bier, der Barkeeper bringt sie. »Ganz einfach.«
Garrett schiebt die leere Flasche beiseite, greift die volle. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Du kannst fragen, oder aber ich sag’s dir einfach so.«
»Okay. Was war der wahre Grund?«
»Ich war immer arbeiten und, wenn ich zuhause war, hatte ich keine Worte mehr übrig.« Stanley kann den Barkeeper sehen, wie er hinter dem Taschenbuch zu lächeln beginnt. »Das ist das Heikle an Worten. Du kannst ihrer überdrüssig werden. Und sie wurde der Worte noch überdrüssiger als ich. Zumindest meiner. Das Geld hat sie gemocht, aber nach einer Weile hat sie gedacht, dass sie das Geld ohne die Worte haben kann. Das war das Aus.«
»Dann hab ich es ja besser. Ich hab kein Geld.«
»Das wird nicht immer so bleiben«, entgegnet Stanley. »Wenn du an ein oder zwei gute Geschichten kommst, dann rieselt es. Deine Arbeit ist top.«
Garrett nickt, aber er sieht nicht überzeugt aus.
»Lass es für heute dein letztes Bier gewesen sein und mach dich auf nach Hause.«
»In Ordnung«, sagt Garrett und lässt seine Flasche über der Theke kreiseln.
Das Telefon klingelt. Der Barkeeper nimmt ab und hört eine Minute zu, ohne etwas zu sagen, dann reicht er Garrett den Hörer. »Ich glaube, das ist für Sie.«
Garrett hört auf, die Flasche kreiseln zu lassen. Er rührt sich überhaupt nicht mehr. Stanley legt ihm die Hand auf die Schulter und gibt ihm einen leichten Stoß.
»Ich glaube nicht, dass es Ihre Frau ist«, sagt der Barkeeper. »Ich glaube, es ist Ihr Chef.«
Garrett nimmt das Telefon und hört schweigend zu. »Jawohl«, sagt er. Dann noch einmal.
Er sagt es, bis Stanley nicht mehr zuhört, dann gibt er den Hörer zurück.
»Er wollte nicht mit mir reden?«, fragt Stanley.
»Nein.« Garrett lässt die Flasche wieder kreiseln. »Aber er hat nach dir gefragt.«
»Das hab ich nicht bezweifelt.«
»Er hat gefragt, ob du noch dein Auto hast.«
»Dieses verfluchte Leben.« Stanley presst sich die kalte Flasche an die Stirn. »Warum?«
»Er will uns oben in den Bergen haben.«
»Wo?«
»Old Lonesome.«
»Nicht mit mir.« Stanley schüttelt den Kopf. »Ich gehe auf mein Zimmer und esse Salzcracker und Sardinen. Es gibt noch ein Telefonat, auf das ich warte, und das hat nichts mit dem Old Lonesome zu tun.«
»Ich muss ihn in fünf Minuten zurückrufen, wenn wir es nicht schaffen.« Garrett klopft mit dem Flaschenboden auf die Theke. Nicht besonders fest und auch nicht laut. Es ist nur ein leichtes Klopfen. »Es sind du und ich, oder ich bin nicht dabei. Das hat er klargemacht. Und es zieht ein Sturm auf. Wir müssen jetzt los.«
»Es ist ein Gefängnisausbruch. Das heißt, einem Haufen dummer Hinterwäldler die ganze Nacht durch die Wälder zu folgen.«
»Kann sein.«
»Und woher hat er gewusst, dass ich hier bin? Wie zur Hölle weiß er so etwas?«
»Ist das wichtig? Das ist die Story, die ich brauche. Hat er mir gesagt.«
»Für mich macht es keinen Sinn, Stories zu schreiben, bei denen mir das Gesicht weggeschossen werden kann«, sagt Stanley. »Vielleicht, wenn sie sich an einem Weinkorken verschluckt oder so etwas. Bis dahin bleibe ich hier und trinke.«
»Die Kleine ist erkältet, ich muss mich zwischen Medizin und Milchpulver entscheiden, beides kann ich mir nicht leisten. Und meine Frau isst noch nicht einmal mehr was.«
»Zur Hölle, Junge«, sagt Stanley. »Fahrt alle zur Hölle. Und er auch. Du weißt, warum er dich angerufen hat, oder? Der Scheißkerl wusste, dass ich nicht losziehen würde, wenn er mich fragt.«
»Wenn ich es alleine machen könnte, würde ich es tun. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, würde ich dich nicht darum bitten.«
»Hab ich dir je von meinem Pfirsichgarten erzählt?«, fragt Stanley. »Pfirsiche wachsen überall. Die meisten Leute wissen das nicht. Die Navajos haben sie sogar in irgendwelchen Canyons in Arizona gezogen, bis Kit Carson gekommen ist und die Bäume niedergebrannt hat. Wenn du dann irgendwann mal genug Geld hast, um dir einen Pfirsichgarten zu kaufen, dann steck dir besser auch gleich noch die Nummer von einem Scheidungsanwalt in die Tasche.« Stanley starrt auf die Theke. »Ihr könnt mich alle mal! Wie sieht deine Frau überhaupt aus?«
»Was?«
Stanley rülpst in die Faust. »Erzähl mir was von ihr. Irgendein Detail.«
»Ich kann sie nicht beschreiben. Ich bin kein Schreiber, so wie du. Kann ich dir ein Foto zeigen, das ich von ihr gemacht habe?«
»Zeig’s mir.«
Garrett holt das Foto aus seiner Brieftasche, hält es hoch.
Es ist genau das, was Stanley erwartet hat. »Fuck you, kid.«
5
– Der Häftling –
Mopar kann Molly einfach nicht vergessen. Selbst jetzt nicht. Das Adrenalin hat sich gerade erst verflüchtigt, und schon beherrscht sie wieder seine Gedanken. Sein Kopf brüllt, dass er hier draußen auf derselben Seite ist wie sie. Immer noch kauert er neben dem Piano und hat die selbstgemachte Schrotflinte in der Hand. Draußen vor dem Fenster treibt der Schnee weiße Striche durch das dunkler werdende Blau. Hinter dem Gefängnis ragt der Dos Tortugas Mountain hervor. Er trägt Mollys Gesicht. Der Schnee, die Bergflanke. Es ist ihr Sommergesicht, weil es in den Erinnerungen an sie immer Sommer ist. Sonnenbaden auf einer Decke in ihrem Garten, neben ihnen ein Stapel Bücher. Ihre Kleider und Bettlaken flattern an der Wäscheleine. Und später sind es ihr Haar, ihre braunen Schultern, der Geruch von Sonne und Sonnencreme.
Es ist sinnlos, darüber nachzudenken. Es gibt da eh nichts mehr zu holen. Molly ist nicht ein einziges Mal gekommen, um ihn zu sehen. Jemand wie sie kommt nie.
Warrington liegt an der Wand, die Hände auf der Brust, und schnarcht zufrieden. Schwer zu sagen, ob Bad News auch schläft. Seine Füße zucken so sehr, als würde er Hasen jagen. Die beiden haben eine ganze Flasche Brandy intus, die sie in einem Geschirrschrank gefunden haben.
Und dann sind da die Wärter. Der Blonde hat sich nicht gerührt, seit Howard