Flucht. Benjamin Withmer
führt über einen Hügel und durch ein Wäldchen windzerzauster Espen, die sich gegen die Straße biegen, führt durch eine Viehsperre. Dann kommt ihre Blockhütte. Der Schnee peitscht durch die schwärzer werdende Nacht. Dayton zieht ihr Taschentuch heraus und putzt sich laut die Nase, bevor sie anklopft.
Julie kommt an die Tür in einem verwaschenen roten Kleid. Durch die geöffnete Tür dringt der Geruch von Plätzchen nach draußen, die ein wenig zu lange im Ofen gewesen sind.
Wie immer, wenn sie Julie sieht, fühlt Dayton sich wie eine Waise. Wie immer bringt es sie durcheinander. Sie ist alles andere als eine Verlorene, war das auch noch nie.
»Komm rein«, sagt Julie. »Bei dem Wetter will man nicht draußen sein.«
Dayton tritt ein. Das Wohnzimmer ist mit Fichtenbrettern getäfelt. Eine cremefarbene Couch, Aschenbecher, ein großer Fernsehschrank. Ihr Weihnachtsbaum steht noch, unbeleuchtet, aber perfekt kegelförmig. Es ist so ein Baum, wie man ihn in den Weihnachtstiteln der Kinderbuchreihe »Little Golden Books« findet, mit pastellfarbenen Ornamentkugeln und Lametta verziert.
Julie greift nach Daytons Jacke.
»Nein, lass«, sagt Dayton. Ihre Stimme klingt wie die einer Fremden in ihren Ohren. »Ich kann nicht länger als eine Minute bleiben.«
»Aber klar kannst du. Ich hab einen Braten. Ist das zu glauben?« Sie reibt sich die Knöchel der rechten Hand. Sie sind geschwollen und rot. Arthritis. »Einen ganzen Braten.«
»Alles in Ordnung?«
»Nur der da …« Julie deutet mit ihren roten Knöcheln zum Fernseher. »… funktioniert nicht. Ich hab schon alles versucht, was in meinen Möglichkeiten steht.«
Der Fernseher ist draußen an eine Antenne angeschlossen, die längste, die Dayton je gesehen hat. Dayton hofft, dass bei jedem Gewitter ein Blitz einschlägt.
»Was macht Richard, wenn der Fernseher nicht geht?«, fragt Dayton.
Julie gestikuliert wieder mit den Knöcheln. Sie lacht wie jemand aus einer Fernsehwerbung. »Er steigt dann hoch und fummelt daran herum.«
»Ich kann da hoch. Man muss nur an ihr drehen, oder?«
Das Knöchelreiben wird schneller, dann wieder langsamer. »Nein«, sagt sie. »Du kannst da nicht hoch. Es kann warten, bis er wieder da ist. Ich hab Zeitschriften.«
»Hat die Sirene geheult?«, fragt Dayton. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie es war.«
»Oh, ja«, sagt Julie. »Das war die Sirene. Richard ist sofort los. Das Telefon ist auch außer Betrieb, aber sie reden im Radio darüber.«
»Und wer ist es?« Daytons Nase juckt, sie würde sie gerne an ihrem Ärmel abwischen, tut es aber nicht. »Wer ist ausgebrochen?«
Julies Augen werden schräg wie die einer Elster. Nur eine Sekunde, dann hat sie es weggeblinzelt.
Dayton mag diese Frau eigentlich nichts fragen. Sie hält sie für jemanden mit einem Missbrauchsfetisch. Wie sonst ließen sich die Schreie erklären, die das Tal hochschallen, wenn der Wind richtig steht? Denn es ist nicht Julies Ehemann, der da schreit.
»Wir machen uns Sorgen um dich allein hier draußen«, sagt Julie.
»Danke dir dafür«, sagt Dayton. Sie presst den Jackenärmel gegen ihre feuchten Augen.
»Wir wissen, wie es ist«, lacht Julie. »Nicht wir, vielmehr ich. Ich kann mir nicht vorstellen, was ich ohne Richard hier tun würde. Ich sage ihm dauernd, dass wir in die Stadt ziehen sollen.«
»Da würde es dir gut gehen.« Dayton holt ihr Taschentuch heraus und putzt sich, so leise sie kann, die Nase. Julies Gesichtsausdruck macht deutlich, dass es noch nicht leise genug war. »Du würdest dort klarkommen.«
»Du hast nicht einmal einen Fernseher. Und niemanden, mit dem du reden kannst.« Ihre Augen werden wieder elsterhaft. »Außer deine Besucher.«
»Ich bin nur heruntergekommen, um wegen der Sirene nachzufragen«, sagt Dayton. »Das war der einzige Grund.«
»Die Sirene hat geheult. Magst du nicht doch zum Essen bleiben? Ich hab einen ganzen Braten und hausgemachte Plätzchen. Sieh dich nur an, dich bläst dieser Wind gleich weg, so dünn, wie du bist.«
Dayton dreht sich zur Tür und öffnet sie. Im Gehen raunt sie etwas, von dem sie hofft, dass es wie ein Dankeschön klingt. Dann ist sie draußen.
Julies Elstergesicht bleibt zurück. Dayton schnäuzt sich zwischen Daumen und Zeigefinger und wischt die Hand an einer Espe ab.
7
– Der Fährtensucher –
Jim dreht den Kopf und spuckt Tabaksaft auf den Boden, sieht sich das Ganze an. Die Sträflinge haben Pearl Greene gefesselt und ihr einen Draht um den Hals verpasst wie den Wärtern, ihrer aber ist straffer gespannt. Jim befreit sie von der Halsfessel, indem er an dem Holzgriff in ihrem Nacken dreht. Sie sollte nicht so behandelt werden. Egal, was sie ist.
Sie bekommt wieder Luft, saugt sie durch die Nase ein. Jim bemerkt die Socke in ihrem Mund. Und dass der tote Wärter auf dem Boden vor ihr, dessen zerschlagener Kopf einen blutigen Heiligenschein hat, keine Schuhe und Socken trägt. Jim steckt Pearl einen Finger in den Mund und zieht die Socke heraus. Pearl sinkt auf dem Sofa zusammen, sie schnappt nach Luft.
Wir kriegen sie, denkt Jim. Wir kriegen sie, und wenn wir sie haben, werde ich mir in Erinnerung rufen, was sie dieser Frau angetan haben. Dafür werden sie büßen müssen.
Bellingham kümmert sich um die beiden Wärter, die noch am Leben sind. Sie lehnen aneinander wie zwei frisch gefällte Bäume, ihr Urin füllt die Luft.
»Kann einer von ihnen etwas sagen?«, fragt Jim.
»Ich bin nicht sicher, ob sie es überleben werden.« Bellingham hat den ersten Wärter von der Drahtschlinge erlöst. Er sperrt die Handschellen auf und legt den verletzten Mann behutsam auf den Boden. Dann wickelt er dem zweiten Wärter den Draht vom Hals. Dessen Augenlider flattern für etwa zehn Sekunden in einem seltsamen Rhythmus, bleiben aber geschlossen. Bellingham bettet auch ihn vorsichtig auf dem Boden, dann steht er auf und stemmt die Hände in die Hüften. Sein Gesicht, das im Schatten der Uniformmütze liegt, schimmert rot. »Ich melde das übers Telefon«, sagt er. »Diese Jungs brauchen Hilfe.« Er geht aus dem Wohnzimmer zum Telefon im Flur.
Pearls Atmung ist gut, aber ihr Gesicht ist zerknittert und gelb wie Wachspapier. Jim legt ihr eine Hand auf die Stirn.
Pearl reißt die Augen auf, und sie macht ein Geräusch, wie wenn eine Heuschrecke schabt.
»Nein«, sagt Jim. »Nein.« Er hält ihr seine Hand hin, um zu zeigen, dass sie leer ist. »Ich bin keiner von denen. Ich bin ein Wärter.«
Sie versucht sich aufzusetzen, Jim will ihr helfen. Doch sie schlägt seine Hand weg und schafft es alleine.
»Ich bin ein Wärter«, wiederholt Jim. »Wir haben euch gerade gefunden.«
Sie schlägt nach seinem Gesicht. Es ist ein kraftloser Schlag, er macht sich deshalb nicht die Mühe, ihm auszuweichen.
»Ich heiße Jim Cavey«, sagt er.
Sie hört auf, nach ihm zu schlagen und steckt ihre Hände in die Schürze. »Ich werde Sie anzeigen«, sagt sie.
Jim weiß es besser. Da gibt es niemanden, bei dem Pearl je Anzeige erstatten könnte. Pearl Greenes Haus mag zwar in der Stadt liegen, aber sie gehört genauso wenig dazu wie er. Sie existiert kaum. »Wissen Sie, wohin sie unterwegs sind?«
»Weiß ich nicht. Woher soll ich das wissen? Sie haben mich gefesselt.« Sie sieht sich im Wohnzimmer um. Da gibt es nicht viel, was nicht in Blut oder Müll liegt. »Diese Gestörten.«
»Weil sie hinter sich nicht aufgeräumt haben?« Kaum hat diese Bemerkung seinen Mund verlassen, merkt er selbst, wie neunmalklug