Flucht. Benjamin Withmer
erstarren wie von einer Eisschicht überzogen. »Sie wissen, wer ich bin.«
»Ja, Ma’am«, sagt Jim. »Ich weiß, wer Sie sind.«
»Warum sind Sie dann hier?«
»Ihr Haus liegt nicht weit weg vom Nordtor. Es war nur eine Vermutung.«
»Und nicht Direktor Juggs Idee?«
»Nein, Ma’am.«
»Wie lange sind sie schon auf der Flucht?«
»Eine Weile.«
»Und er hat noch keinen von denen wieder eingefangen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Sie lacht krächzend. »Dann hätte er wissen müssen, dass sie hier sind. Wenn er sie sonst nirgends finden konnte.«
»Soviel ich weiß, hat er seine Tochter hier einmal hergebracht«, sagt Jim. Es war eine der Geschichten, die der Alte ihm erzählt hatte. Kaum hat er diese Vermutung geäußert, bereut er sie auch schon.
Mit eiskaltem Blick entgegnet sie: »Das war lang bevor er Direktor geworden ist. Und es war nicht seine Tochter.«
»Sie denken, er hat gewusst, dass sie hier sind? Er hat gewollt, dass man Sie tötet?«
»Ich bin die Einzige, deren Etablissement unter Direktor Jugg überlebt hat.«, sagt sie. »Wenn Sie mir nicht glauben, versuchen Sie, in der Stadt ein Bordell zu finden.« Ihre Augen flackern über die Anrichte in der Ecke. »Ganz hinten in der Anrichte ist noch eine Flasche Brandy. Die haben sie nicht entdeckt.«
Jim geht hinüber, findet die Flasche, eine Karaffe und Gläser. Er gießt ein Glas ein und bringt es ihr.
»Er ist ein verfluchter Schullehrer, dieser Direktor Jugg.« Sie leert das Glas in einem Zug. »Er würde mich auslöschen, wenn er könnte. Aber er tut es nicht, weil ich zu viel über ihn weiß.«
Jim nimmt ihr das Glas aus der zitternden Hand und stellt es auf den Beistelltisch.
»Da liegst du völlig falsch«, sagt Bellingham. Er lehnt in der Tür. »Der Direktor toleriert menschliche Schwächen nicht. Er lässt dich nicht in Ruhe, weil er Angst vor dir hat. Er lässt dich in Ruhe, weil du die Arbeit für ihn erledigst.«
»Das ist genau das, was du sagen musst«, sagt sie. »Direktor Juggs Schoßhund.« Sie nimmt das Glas und setzt es an den Mund, aber es ist leer.
»Du überschätzt dich«, sagt Bellingham. »Das passiert selbst den Besten unter uns.«
Jim nimmt ihr das Glas ab und geht zur Anrichte.
»Wenn du die Flasche anrührst, teile ich dich für den Rest deines Lebens zum Wochenenddienst ein«, sagt Bellingham.
»Es ist für sie.« Jim gießt den Brandy ein. »Sie sagt uns gleich, wohin sie gegangen sind.«
Beide Gesichter drehen sich ihm zu.
»Hat sie dir schon etwas verraten?«, fragt Bellingham.
»Noch nicht«, sagt Jim. Er geht hinüber zum Weihnachtsbaum und hebt den Torso des Jesuskinds hoch, dem Kopf und Arme abgerissen sind. Er dreht ihn in der Hand, setzt ihn vorsichtig in die Krippe, dann bringt er Pearl das Brandyglas.
»Ich hasse sie.« Ihre Stimme ist spröde wie eine Zigarre, die man in der Sonne liegen gelassen hat. Sie nimmt das Glas. »Ihr habt keine Ahnung, wie sehr.«
8
– Der Häftling –
»Verdammt noch mal, fahr nicht so schnell«, sagt Howard.
Bad News ignoriert ihn. Er fährt den Ford so, als säße ein Vogel mit spitzem Schnabel auf seiner Schulter und picke ihm ein Loch ins Ohr. Die Knöchel seiner dünnen Hand am Schaltknüppel sind weiß, wenn er den Gang wechselt. Seine Anstaltsstiefel malträtieren die Pedale.
»Ich meine es ernst, du Blödsack«, sagt Howard.
Sie schießen über eine Erhöhung und Mopar wird es flau im Magen. Er hat gewusst, dass es eine Schnapsidee war, als Bad News die Schlüssel genommen hat. Aber Howard hat ihn ans Steuer gelassen, damit er Ruhe gab. Das hat man davon, wenn man zu nachgiebig ist.
Es hilft auch nicht, dass Bad News mit sich selber redet. Ein langer Schwall von halben Silben und kehligem Grunzen, als ob er sich im Schlaf durch einen Traum vom Autofahren redet. Sie gehen so scharf in eine Kurve, dass Mopar beinahe das Bewusstsein verliert.
Howard will etwas sagen, aber da ist es schon passiert. Es war eine Kurve zu viel. Die Hinterräder rutschen von der gefrorenen Straße, der Wagen schießt in Richtung Graben. Bad News reißt das Lenkrad herum, der Wagen schlingert und sie sind nicht länger auf der Straße, sondern fahren neben ihr.
»Zurück auf die Fahrbahn«, schreit Howard. »Motherfucker, bring uns wieder auf Kurs.«
Sie pflügen durch eine Reihe von Schneezäunen. Ein Knirschen, dann das dünne Kreischen von zerreißendem Metall, zersplitterte Holzstücke fliegen über den Kühler. Bad News reißt wieder am Lenkrad, und sie rauschen eine Böschung hoch. Mitten hinein in eine verbogene Fichte, die aus einem Felsblock wächst. Wie ein Stein, den man an eine Wand wirft, knallen sie auf den Baum und kommen abrupt zum Stehen.
Niemand sagt etwas. Sie sitzen nur da und lassen das Auto wie einen erschöpften Jagdhund zusammenbrechen.
Dann stellt Bad News den Motor ab und steigt aus. Streckt seine Arme, als hätte er sich auf der langen Fahrt – von sage und schreibe zehn Meilen – seine Schultern verspannt.
Sogar von hinten kann Mopar Howards Kinn mahlen sehen, als dieser grimassierend aus dem Wrack steigt. Es sieht aus, als kaue er an einem Stück Kaugummi herum. Er geht zur Mitte der Asphaltstraße und späht in die einsetzende Dunkelheit, die alles in Schwärze versinken lässt. Auf der anderen Straßenseite stehen zottelige Fichten voller Schnee, man könnte meinen, sie wären da, um den Staub des verschwindenden Tages einzusammeln. »Hühner fickender Schweinesack«, sagt Howard, ohne sich umzudrehen. »Hast du mich nicht gehört, als ich gesagt habe, dass du langsamer fahren sollst?«
Bad News zuckt die Schultern. Der Motor heult noch immer wütend. Kühlflüssigkeit und Öl laufen aus der Haube. »Ich hab noch nie ein so schickes Auto gefahren. Ich wollte sehen, was es kann.«
Howard starrt ihn an.
»Wenn ich bloß eine Zigarette hätte.« Bad News seufzt zufrieden. »Beim Fahren bekomme ich immer Lust auf eine Kippe.«
Howard tötet ihn mit Blicken.
»Das Eis war nicht zu sehen«, sagt Bad News. »Es hätte nichts geändert, wenn wir weniger draufgehabt hätten.«
»Red dir das nur ein«, sagt Howard. »Red dir das nur ein, wenn dich einer der Wärter ans Bett fesselt und dich mit dem Besenstiel in den Arsch fickt.«
»Wartet«, sagt Warrington. Sie alle halten inne. Wie Bad News trägt Warrington immer noch die Gefängnisklamotten, aber sein rundes Gesicht und der bleistiftdünne Schnurrbart lassen ihn mehr wie einen Banker als einen Sträfling aussehen. Bis man mit ihm redet. Er redet nicht wie ein Banker oder ein Sträfling. Er redet wie der Hundertjährige Bauernkalender, benutzt viele altmodische Wörter. Es ist eine dieser alten Weisheiten gewesen, die ihn ins Gefängnis gebracht hat, als ein Nachbarsfarmer seiner Schwester Versprechungen gemacht hat, die er nicht halten konnte. So hat es Mopar gehört. »Ich weiß, wo wir sind«, sagt er.
»Nutzloser Hühnerficker.« Howards Augen sind immer noch dabei, Bad News aufzufressen. »Nutzlos wie eine Fotze voll kalter Pisse.«
Bad News steckt seine Hände in die Taschen und pfeift vor sich hin. Etwas von The Doors.
»Nicht weitab von hier«, sagt Warrington. Die Borsten seines Bankerschnurrbarts