Flucht. Benjamin Withmer
einer von zu vielen Drinks benebelten Hausfrau, die vor dem Ausziehen die Gardinen nicht zugezogen hatte. Jungs, die ihre kleinen Schwänze herausholten und in die Büsche wichsten. Die Reißverschlüsse ihrer Jeans rubbelten rote Striemen in die Eier.
Und am Sonntag nach der Kirche das Chilly Bear Drive-In, wo kurzgeschorene Gefängniswärter am Bestellfenster anhalten und Kartons mit Coors und Papiertüten voller Burger für zu Hause mitnehmen. So viel, dass es auch noch für die Nachbarn reicht. Besonders für diesen Zahnarzt mit seiner Frau, die einen so heiß macht, dass man den Schwanz gegen eine Autotür rammen möchte. Oder für den alten Mann mit Strohhut und Cowboystiefeln, der aus dem Yard torkelt, dabei auf eine Familie stößt, die auf dem Weg ins Kino ist, und ihr von der Zeit erzählt, als die Indianer uns das verdammte Dach anzünden und jeden von uns massakrieren wollten. Oder für die Mutter, die ihre Kinder von dem Alten wegscheucht und dem Jüngsten beim Weggehen die Ohren zuhält. Für den Familienvater, der zurückbleibt und dem alten Schwätzer sagt, dass er sein dreckiges Maul halten soll, bevor er es ihm stopft.
Zum Stadtbild gehört auch das Gebäude der Dos Tortugas Credit Union mit einem Spitzturm wie eine Kirche. Wo die ausdruckslosen Frauen der Gefängniswärter hineingehen, um den schmelzenden Kontostand zu checken und die Tage zu zählen, bis sie ihre alten Ehemänner verlassen müssten – in der festen Absicht nicht zurückzukommen, nie mehr.
Das ist alles, was diese Stadt zu bieten hat. Barmherziger Himmel, mehr gibt es hier nicht. Da wünscht man sich doch, dass man sein Herz unter der Matratze in einer Bettpfanne verstecken könnte.
Dann fing dieses ältere Mädchen bei ihnen an. Sie hieß Betty und sollte sich um Daytons Mutter kümmern, während Dayton in der Schule war. Kein Arzt hat je herausgefunden, was mit Daytons Mutter nicht stimmte, aber sie alle waren sich einig, dass sie viel Ruhe brauchte. Und weil Dayton an den Schultagen nicht da sein konnte, um ihrer Mutter etwas zu Essen zu bringen oder das Fernsehprogramm umzuschalten, wurde Betty ins Haus geholt.
Wenn Dayton von der High School nach Hause kam, gab Betty ihr eine Zigarette, und sie saßen auf den Stufen der Haustür und rauchten. Betty war ein großes Mädchen mit einer Knollennase und braunen Augen, die hübsch gewesen wären, hätten sie nicht immer gewirkt, als würde sie dir beim Sabbern zusehen. Diesen Blick hatte sie aus Boulder mitgebracht, wo sie an der Fachhochschule studiert und einen Abschluss in etwas mit Gestein gemacht hatte.
Es war einer dieser Nachmittage im Herbst. Im Vorgarten stand eine schmalblättrige Pappel, die ihre gelben Blätter über dem Vordereingang verstreute. Betty gab Dayton eine Marlboro und steckte sich die eigene, nicht angezündete Zigarette in den Mund während sie das Zellophan von einem pinkfarbenen Sno Ball Schokoküchlein wickelte. »Ich weiß, sie ist deine Mam«, sagte sie zu Dayton. »Aber ich würde so nicht leben wollen.«
»So schlecht hat sie es doch gar nicht.« Dayton strich ein Zündholz auf dem Betonboden an und steckte sich ihre Zigarette an. »Seit Dad den Fernseher nach oben gebracht hat, muss sie nicht einmal mehr runter ins Erdgeschoss.«
»Ich wünschte, ich hätte jemand, der mir das Fernsehprogramm umschaltet.« Betty biss in den kleinen Schokoladenkuchen. Sie schluckte das Stück, ohne zu kauen, und leckte sich Kokoskrümel von der Lippe, dann gab sie sich Feuer. »Was macht ihr, wenn ich weggehe?«
Dayton war vertieft in den Anblick der sonnenbeschienen Pappelblätter und hörte sie beinahe nicht. »Weggehen?«
»Weggehen«, sagte Betty. »Ich gehe weg. In zwei Tagen.«
»Wohin?«
Betty hielt den Sno Ball nun zwischen zwei Fingern und zog an der Zigarette. »Nach Moab.«
Dayton musste lachen. »Moab?«
Betty warf ihr einen dieser geringschätzigen Blicke zu. »Da ist ein Schriftsteller in Moab. Bei den Arches. Er schreibt ein Buch darüber.«
»Okay«, sagte Dayton. »Moab.« Sie dachte nach. »Ich denke, wir werden jemand finden.«
»Werdet ihr nicht«, sagte Betty. »Du hörst die Sachen nicht, die sie zu mir sagt. Niemand sonst mutet sich das zu.«
»Ich weiß, was sie sagt«, antwortet Dayton.
»Und das Beißen.« Betty bricht ein Stück von dem Kuchen ab und steckt es sich in den Mund. »Diese Frau beißt wie ein verdammter Pitbull. Man kann solche wie sie sogar mit dem Stock schlagen, und sie lassen trotzdem nicht locker.«
»Ich weiß, dass sie beißt.«
»Ihr fehlt nichts.«
»Der Arzt sagt, doch.«
»Sicher. Aber nur in ihrem Kopf.«
Daytons Zigarette schmeckte wie Asche und Kalk. Mit den Pappelblättern darauf sah der Bürgersteig aus wie eine Schlange. Nicht die Art Schlange, die beißt, sondern die Art, die sich um dich windet und dich erwürgt. »Kann ich mitkommen?«
»Kannst du fahren?«
»Bin ich noch nie, aber ich kann es lernen.«
Bettys Blick war mit einem Mal nicht mehr ganz so abweisend. Es war, als ob sie auf etwas weniger Abstoßendes schauen würde, als auf sabbernde Menschen. »Das wär gut, denke ich.«
Also fuhren sie an diesem Wochenende los und Dayton sagte niemand etwas. Sie löste ihr kleines Konto auf, leerte Mutters Geldbörse und verschwand mitten in der Nacht. Aber wie es so war, hatte der Schriftsteller seit Jahren nicht mehr im Arches-Nationalpark gelebt. Also entschlossen sie sich, nach Las Vegas zu fahren. Und Vegas war Party. Vegas ist das immer. Aber Vegas ist die Art Party, die immer in einem billigen Hotelzimmer endet mit dem weißen Bein eines Kartenspielers über deinem Bauch. Diese Party war da nicht anders, zumindest was Betty anging. Also leerte Dayton dem Spieler die Taschen und kaufte sich ein Busticket nach Los Angeles.
Es war nicht so, dass Los Angeles für Dayton irgendetwas bedeutete. Nicht mehr als Vegas. Sie stieg aus dem Bus und in einen grauen Smog, der wie eine Decke über der Stadt lag. Bei der ersten Imbissstube, die ein Schild mit »Wir stellen ein« im Fenster hatte, hielt sie an. Und hatte den Job.
Sie sog das alles auf: Die Fitness-Freaks von der Venice Beach, die für die Fotografen die Muskeln spielen ließen. Die breiten, von Cadillacs gefluteten Straßen, während man unter einem Verkehrsschild stand und auf einen Bus wartete. Die Neon-Clubs, in denen man die ganze Nacht sitzen und umsonst trinken konnte. Das Trinken aber war ein Nippen und man musste dem Mann zuhören, der einem den Drink spendiert hatte. Es wurde schnell ziemlich flach. In dieser Stadt wickelte man sich selbst in Papier ein, mit einer Schleife oben drauf, und vergaß, dass man ganz woanders herkam. Auch wenn hier nicht wirklich viel mehr als in ihrer Heimatstadt passierte, so war es doch ein anderes Nichts.
So ging es bis zu der einen Nacht, als sie ein wenig high von etwas Gras war, das sie von einem Tellerwäscher der Imbissstube gekauft hatte. Sie bekam Heimweh und rief aus einer Telefonzelle ihre Mutter an. Ihre Mutter klang beinahe ganz normal, fast wie die Mutter von früher, an die Dayton sich erinnerte. Sie überredete Dayton zum Heimkommen und klang dabei so, als wäre alles ganz und gar in Ordnung mit ihr.
Aber das war es nicht.
Los Angeles war nicht das große Abenteuer gewesen, wie jeder glaubte, aber Dayton verriet das niemandem. Sie war weggegangen und wieder heimgekommen, bevor es wirklich angefangen hatte. Das Nachtleben auf dem Sunset Strip, die billigen Schallplatten-Produzenten und Rockstars, die in Limousinen auf dem Fischzug nach Mädchen waren, der große Underground-Maskenball samt Orgie, die Beatniks gegen die Sperrstunde mit Schildern wie Gott ist nicht tot, er ist pleite, die langhaarigen Freaks, die über die Straßen stolperten und die ganze Stadt als Wunderland halluzinierten. Dayton vermisste das alles. Es war eine Frage des richtigen Timings. Sie war wieder zurück, arbeitete sechs Nächte die Woche im Yard und kümmerte sich tagsüber um ihre Mutter. Sie ertappte sich dabei, wie sie über L.A. in Zeitschriften las und die Berichterstattung im Fernsehen verfolgte. Sich wünschte, wieder dort zu sein. Sie wünschte, einfach irgendwo anders zu sein.
Und jetzt könnte sie jederzeit gehen, wann immer sie will. Noch aber geht sie nicht. Nicht jetzt, wo kein Ethan mehr da ist und ihr die