SeitenSprünge | Erotischer Roman. Clarissa Thomas

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Retrobrille, die ihm wesentlich mehr ein modisches Accessoire als eine Sehhilfe war, konnten seine blauen Augen tödliche Pfeile abschießen. Mit seinem kurzen, drahtigen Haar, den jugendlichen Gesichtszügen, der glatten, gebräunten Haut und der maßgeschneiderten Kleidung war er wohl das, was man als Gewinner-Typ bezeichnete – doch nicht für mich. Er versprühte permanent das aufdringliche Flair von Arroganz, bestand darauf, dass wir ihn alle mit Vornamen ansprachen.

      »Lionel. Nennen Sie mich einfach nur Lionel«, waren dann seine Worte. Er bewohnte den sogenannten Glaskäfig, einen Raum, der von unserem Großraumbüro durch riesige Glaswände abgetrennt war, damit er seine Mitarbeiter auch stets im Auge behalten konnte.

      Sein Vortrag näherte sich dem Ende, was ich daran bemerkte, dass er wieder von der kollegialen Atmosphäre sprach, ein Lieblingsthema meines Chefs!

      »Lionel. Nennen Sie mich einfach nur Lionel.«

      Tatsächlich wies er uns noch einmal auf die Bedeutung der gesunden Ehrlichkeit in einer Gemeinschaft hin, dann erklärte er unsere Sitzung für beendet.

      »Ich wünsche Ihnen allen einen erfolgreichen Arbeitstag.«

      Fast zeitgleich standen alle Kollegen auf und bewegten sich zügig in Richtung der Tür. Auch ich wollte mich schnell zwischen ihnen einreihen, doch plötzlich hörte ich hinter mir eine volltönende Stimme.

      »Amanda, bleiben Sie bitte noch kurz im Raum.«

      Lionel nahm seine Brille ab, massierte kurz seine Nasenwurzel, als hätte er dahinter unglaubliche Gedanken auszubrüten, dann blickte er mich sehr ernst an. »Mir sind verschiedene Klagen über Sie zu Ohren gekommen.«

      »Ich höre.«

      »Sie kleiden sich zu aufreizend. Ihr Stil ist ... etwas gewagt für ein seriöses Unternehmen, finden Sie nicht?«

      »Finden Sie das denn? Sind schöne Strümpfe etwas Verbotenes? Wollen Sie eine Mindestlänge für Röcke einführen?«, fragte ich zurück, schlagfertiger, als ich mich selbst eingeschätzt hätte – scheinbar überraschte diese Erwiderung auch Lionel, für einen Augenblick verlor er den Faden, zog an seiner Krawatte und räusperte sich.

      »Nun ... Was ich finde, muss wohl hinter der mehrheitlichen Meinung der Mitarbeiter zurücktreten.«

      »Ich glaube nicht, dass wir in diesem Fall von einer mehrheitlichen Meinung sprechen sollten. Die Vorbehalte kommen immer aus der gleichen Richtung.«

      »Was meinen Sie damit?«

      »Neidische Kolleginnen und dauererregte Kollegen, die frustriert sind, weil ich sie in tausend Jahren nicht ranlassen würde.«

      »Amanda, bitte!«

      »Wollten wir nicht ehrlich sein?«

      »Doch, aber nicht flegelhaft.«

      Er sagte noch einiges mehr, aber ich war zu sehr von dem Wort flegelhaft beeindruckt. Wo hatte er das nur her? Wer außer ihm verwendete das heute noch?

      »... jedenfalls halte ich es für überaus bedeutsam, Sie im Sinne eines gesunden Betriebsklimas darauf hinzuweisen, in Zukunft etwas gemäßigter zu sein, Ihre Kleidung wie Ihr Verhalten betreffend.«

      Lionel hatte seine Brille abgenommen, was seine Augen unerträglich klar erscheinen ließ. Ich erwiderte nichts mehr, stattdessen verließ ich den Besprechungsraum so aufrecht, wie ich es in diesem Moment nur konnte. Gemäßigter? Lionel würde mein Verhalten schon noch kennenlernen.

      An diesem Tag beschäftigte mich die Arbeit noch weniger als sonst; auch Jolie, die sich von mir immer wieder Ratschläge erbat, wie sie ihren Mann einmal überraschen könnte, fand heute nur eine unaufmerksame, wortkarge Kollegin vor. Als sie sich schließlich zurück an ihre Arbeit machte, zog ich die Tastatur zu mir heran und tippte meinem Chef eine Frage, die mir schon die ganze Zeit im Kopf herumgegangen war.

      »Was halten Sie von der Möglichkeitsform, Lionel?«

      »Die Wirklichkeit ist mir lieber, Amanda.«

      »Nun seien Sie doch nicht so unerträglich ernst. Erzählen Sie mir, was Sie machen würden, wenn wir hier ganz allein wären?«

      »In diesem Fall sind Möglichkeit und Wirklichkeit identisch: arbeiten.«

      »Ist das Leben nicht auch da, um sich zu amüsieren?«

      »Amüsieren kann man sich nach Dienstende.«

      »Klingt fast, als hielten Sie sich einen ganzen Harem von Geliebten.«

      »Dafür, dass Sie sich so viel auf Ihr Gespür einbilden, täuscht es Sie manchmal ganz schön. Ich bin in festen Händen.«

      »Dafür, dass Sie sich so viel auf Ihre Überlegenheit einbilden, sind Sie manchmal richtig süß. Ihre Frau muss sehr glücklich mit Ihnen sein.«

      »Falsch.«

      »Ihre Verlobte?«

      »Schon wieder falsch.«

      »Ihre Freundin?«

      »Mein Lebensgefährte.«

      »Sie sind ...?«

      »Bin ich.«

      »Nicht im Ernst.«

      »Doch, sogar unerträglich ernst, Amanda.«

      »Aber wie – ich meine, der größte Teil der weiblichen Belegschaft hat vermutlich schon beim allwöchentlichen Beischlaf an Sie statt an den eigenen, langjährigen, bierbäuchigen Partner gedacht ... lässt Sie diese Vorstellung völlig kalt?«

      »Das würde mir schmeicheln, sollte es sich tatsächlich so verhalten – aber ich werde nur eine Phantasie bleiben.«

      Ich schob die Tastatur von mir. Er mochte sich so distanziert geben, wie er wollte – mir konnte er nichts vormachen. Mit mir selbst schloss ich eine Wette, dass ich noch vor Ablauf dieser Woche seine Festung der Anständigkeit stürmen und bis auf die Grundmauern niederbrennen würde. Und – um bei diesem Bild zu bleiben – Lionel würde um jede einzelne Flamme betteln.

      ***

      Gleich am nächsten Tag begann ich mit dem Versuch, unserem Nachrichtenverkehr eine deutlichere Richtung zu verleihen.

      »Sie haben meine gestrige Frage noch nicht beantwortet.«

      »Ich habe Ihnen gestern schon viel zu viele Fragen beantwortet.«

      »Diese Eine nicht. Was würden Sie machen, wenn wir hier ganz allein wären?«

      »Vermutlich Überstunden. Und Sie wohl auch, oder sind Sie plötzlich an unbezahlter Mehrarbeit interessiert?«

      »Lassen Sie mich es anders formulieren: Unsere Kollegen und alle anderen Menschen sind bei einem spontanen Atomkrieg ums Leben gekommen, und wir haben als Einzige überlebt, weil die Bleifarbe an den Bürowänden uns vor der Strahlung schützte. Nun liegt es an uns, die Welt neu zu besiedeln.«

      »Das täte mir leid für die Welt. Wie Sie seit gestern wissen, bin ich für Besiedlungspläne nicht der richtige Ansprechpartner.«

      »Lionel, wie sagen Sie so schön in den Besprechungen, wenn es um zusätzliche Aufgaben geht: Es ist alles nur ...«

      »... eine Frage des Wollens. Ich weiß. So sehr es mich ehrt, von Ihnen zitiert zu werden, möchte ich unseren Dialog an dieser Stelle lieber beenden. Es gibt noch viel zu erledigen.«

      Zugegeben, ich machte es ihm auch nicht leicht. Mit der Konsequenz einer erfahrenen Jägerin lauerte ich auf passende Gelegenheiten und nutzte sie, wann immer es ging.

      Wenn ich meinem Chef etwa die angeforderten Unterlagen brachte, stützte ich mich mit den Unterarmen auf seinen edlen Schreibtisch, bis sein Blick in gerader Linie in meinem weiten Ausschnitt landete ... Verließ ich sein Büro, fiel mir immer irgendetwas hinunter, sodass ich gar nicht anders konnte, als mich danach zu bücken und Lionel die Rundungen meiner Rückseite zu präsentieren ... Als ich ihn einmal zufällig am Kopierer erwischte, bat ich ihn, sich meine Schulter anzusehen, die


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