Finnische Träume | Roman. Joona Lund
was sich daraus entwickeln würde. Und er wusste, dass der Versuch, ihren Einfluss auf seine Gefühlswelt zurückzudrängen, so lange zum Scheitern verurteilt war, als er es mit halbem Herzen tat und ihre Dauerpräsenz in Kopf und Seele zuließ und sogar genoss. Ihr Erscheinen im Traum beunruhigte ihn nur insofern, als er im Schlaf redete und befürchtete, sich zu verraten, wenn ihn Mutter weckte.
Während er das Frühstücksbrot kaute, meinte Mutter: »Am liebsten hätte ich dich heute schlafen lassen: Du wirktest so entspannt und hast gelächelt wie ein Baby.«
Inku, die angezogen an der Tür stand, warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Dann liefen sie zur Haltestelle.
Am Nachmittag erzählte sie Jan etwas Belangloses aus dem Unterricht. Er hörte nicht richtig zu, beendete einen Aufsatz für die Schulzeitung.
»Gleich«, murmelte er, »ich bin schon beim letzten Absatz.«
Beleidigt zog sie ab.
Nachdem er den Schlusspunkt gesetzt und alles durchgelesen hatte, schlenderte er zu ihr. »Also, wo brennt’s?«
Sie schmollte und tat, als wäre ihr Buch so spannend, dass sie nicht zugehört hatte. Sie las viel, vor allem Romane, ihre Aufgaben machte sie in letzter Minute.
»Na, dann eben nicht ...« Er wandte sich ab.
»Ich wollte dich was fragen«, lenkte sie ein.
Er wartete.
»Heute Morgen beim Frühstück hat Mutter etwas zu dir gesagt ...«
Schweigend schaute er sie an.
Es schien ihr nicht leicht zu fallen, darüber zu reden. »Sie meinte«, zögerte sie und nahm erneut einen Anlauf, »na ja, dass du im Schlaf selig gelächelt hast wie ein Baby ...«
»Stimmt«, gab er zu. »Und?«
»Hast du wieder«, fragte sie errötend, »etwas geträumt?«
Er nickte und schwieg.
»Hast du«, ihre Stimme zitterte leicht, »auch von mir geträumt?«
»Mhm«, machte er. »Habe ich. Und nun möchtest du wissen was?«
Sie nickte und wie zur Bestätigung ein zweites Mal.
Und er erzählte es ihr ...
Es war ein ausnehmend warmer Sommerabend, als sie zum See radelten. Trotz geringer Tiefe erreichte seine Temperatur kaum mehr als sechzehn oder siebzehn Grad, auch wenn die Sonne den ganzen Tag schien. Inku war der Badeanzug so knapp geworden, dass jede Bewegung seitwärts etwas von ihrer Brust freilegte.
»Ich glaube, du brauchst einen neuen.«
»Sag das Mutter«, forderte sie ihn lachend auf und machte einen Kopfsprung vom Bootssteg. Prompt rutschte ein Träger über den Arm, keck schaute eine Brust in die Luft, als sie auf dem Rücken schwamm. Erst nach etlichen Metern spürte sie es, zog den Träger hoch, schaute hoch und grinste. »Na, was zu sehen bekommen? Kommst du nicht herein?«
Jan schüttelte den Kopf, schaute zu, wie sie auf dem Rücken zu der kleinen mit niederem Buschwerk bestandenen Insel kraulte.
3. Der Wandel (Inku)
Alles war anders geworden. Es waren nicht nur die körperlichen Veränderungen wie der Haarwuchs an Stellen, wo bisher glatte Haut war, der Ansatz des Busens, die länger werdenden Oberschenkel, der ausladende Popo, überhaupt die ganze Figur, die ihr zu schaffen machten ... Fast noch mehr verwirrte sie das sich ändernde Denken und ihre Gefühle. Es hatte sie geärgert, dass Jan als einzigem nicht aufzufallen schien, dass sie nicht mehr das kleine Mädchen war, auf das er Acht geben, deren Schularbeiten er kontrollieren sollte. Erst in den letzten Monaten hatte er nicht mehr übersehen können, dass sie nicht nur ein Stück gewachsen, sondern insgesamt erwachsener geworden war. Jungen waren eben Spätentwickler, hatte sie sich getröstet und Jan zugute gehalten, er habe sich deshalb wenig mit ihr beschäftigt, weil er mit der Schule und der Zeitung genug um die Ohren hatte.
Sein doofes Grinsen, als Mutter ihr erklärt hatte, es sei in ihrem Alter normal, vor anderen nicht mehr in Unterwäsche herumzulaufen, hätte er sich allerdings schenken können. Richtig wütend war sie geworden, als er bei ihrer ersten Regel gespottet hatte, und ihr sagte, deshalb müsse sie nicht gleich so ein Theater abziehen. Wie er wohl reagiert hätte, wenn er ohne äußeren Anlass auf einmal zu bluten begonnen hätte? Sie lachte auf, als sie daran dachte, dass bei ihm anatomisch einiges anders war, wie sie beim Umziehen am See gesehen hatte. Mutter hatte bei Inkus erster Monatsblutung schnell reagiert, hatte diese wohl erwartet, und schon Watte und Binden bei der Hand gehabt, als sie beruhigend auf Inku eingeredet hatte.
Jan hatte zuerst nicht kapieren wollen, dass es mit dem kleinen Mägdelein, das alles für bare Münze nahm, was er ihr erzählte, und das ihm überallhin nachlief, nun ein für alle Mal vorbei war, er nicht mehr tun konnte, als hätte sich nichts geändert, sich nicht mehr blind stellen konnte gegenüber dem, was offensichtlich war. Sein Vorwurf, sie sei zickig geworden, und das habe er bei ihr nicht erwartet, zeigte, dass er von Mädchen und Frauen nicht die blasseste Ahnung hatte. Sein Gemaule über versperrte Türen, wenn sie sich wusch oder duschte und er warten musste, ignorierte sie einfach.
Doch für sie gab es Anlass zum Umdenken, etwa damals, als sie unter der Dusche stand und sich einbildete, die Schwelle der Badezimmertür knacken gehört zu haben, als stünde jemand darauf, auch lautes Atmen. Schnell hängte sie sich ein Handtuch um und verhielt sich ganz ruhig, doch da war kein Geräusch mehr. Hatte sie sich vielleicht getäuscht? War wirklich jemand dagewesen, konnte es nur Jan gewesen sein. Sie grinste beim Gedanken, dass es nicht gerade komfortabel gewesen sein dürfte, minutenlang durchs Schlüsselloch zu schauen. Sie lachte und murmelte: »Na wenn schon, dann hat er wenigstens etwas zu sehen bekommen!«
Aber die Annahme, er könnte Interesse daran haben, so etwas zu tun, verwunderte sie, denn bisher hatte er nichts dergleichen erkennen lassen. An den folgenden Tagen hörte sie die verräterischen Geräusche nicht mehr und sie war, stellte sie überrascht fest, fast enttäuscht.
Manchmal spürte sie, wie Jan sie verstohlen musterte. Sie meinte, in seinem Blick ein Staunen zu erkennen, als sehe er sie zum ersten Mal. Und noch etwas erkannte sie in seinen Augen, einen fremden Ausdruck, den sie nicht entschlüsseln konnte und der ihre Neugier weckte. Und als sie feststellte, dass Jan ähnliche Gedanken zu hegen schien wie jene Männer und Halbwüchsige, die anerkennend pfeifen, wenn sie merken, dass ein Mädchen gewachsen ist und an Stellen zugelegt hat, die ins Auge springen, empfand sie Genugtuung. Lange genug hatte er es nicht beachtet. Sie spürte, Jan war unschlüssig, wie er mit der neuen Situation umgehen sollte. Sie wollte erproben, ob und wie er auf bestimmte Signale reagierte; hatte sie sich getäuscht, vergab sie sich nichts. In ihrem Zimmer ließ sie den Büstenhalter über der Stuhllehne hängen, legte die Strümpfe parallel daneben, die Füße nach innen. Beim Frühstück bat sie ihn, ein Heft zu holen, sie müsste die Seite fertigschreiben, hätte es gestern nicht mehr geschafft. Er unterdrückte die auf der Zunge liegende Bemerkung, wenn er ständig Kitsch läse, brächte er auch nicht viel zustande.
Durch die Wimpern beobachtete sie, als er zurückkam, wie er auf ihre Brust schielte. Sie setzte sich in Positur und beobachtete befriedigt, wie er die Ausbuchtungen ihres Pullovers musterte. Offensichtlich war er beeindruckt, sonst hätte er nicht Salz aufs Brot gestreut und erst beim Hineinbeißen gemerkt, dass es bereits mit Marmelade bestrichen war. Er sah ihr spöttisches Grinsen, würgte das Brot aber hinunter.
Kaum war sie nachmittags zu Hause, lief sie ins Zimmer. Der Büstenhalter lag auf einem Strumpf, Jan hatte ihn also hochgenommen, tat aber weiterhin, als sähe er nicht, wie sie zum Teenager heranwuchs. Sie entschied, weitere Köder auszulegen und hatte ihren Spaß daran, den großen Bruder bei kleinen Heimlichkeiten zu ertappen, der nicht ahnte, dass sie davon wusste.
Auf dem Pausenhof beobachtete sie, wie er ihr mit gerunzelter Stirn Blicke zuwarf, sobald sie mit Jungen sprach. Kaum spürte er, dass sie zu ihm schaute, blickte er zur Seite. Wie alle Mädchen in ihrem Alter suchte auch sie Bestätigung dafür, nicht mehr zu den Kindern gerechnet zu werden, war aber nur daran interessiert, seine Aufmerksamkeit