Das Medaillon. Gina Mayer
meine Tochter Dorothea.« Herr Leder wies auf seine beiden Kinder, als wollte er sie dem Kaufmann zum Geschenk machen.
»Traugott und Dorothea«, wiederholte Herr Packenius und nickte gütig, und dann wanderten seine Augen über ihre Schultern zur Tür, zu den nächsten Besuchern, die eintraten und sich unsicher umschauten wie vorhin sie selbst.
Nach der Andacht stand man wieder in kleinen Grüppchen zusammen und redete mit gedämpfter Stimme, es gab nichts zu essen, nicht einmal Schmalzbrote, und Dorothea war hungrig. Sie wartete in der Nähe der Tür darauf, dass ihre Eltern sich verabschiedeten und sie endlich nach Hause konnte zu Tante Lioba. Ihr Magen knurrte leise und drohend und sie legte schnell eine Hand auf ihren Leib, als könnte sie ihn dadurch besänftigen, dann blickte sie auf, weil jemand neben sie getreten war.
»Wir sind noch nicht miteinander bekannt gemacht worden.« Es war der junge Mann, den sie morgens in der Kirche gesehen hatte. »Andreas Packenius.« Er reichte ihr seine Hand. Lange, braune Finger.
»Angenehm«, sagte sie. »Dorothea Leder.«
»Meine Eltern und mein Bruder stehen dort drüben«, fügte sie dann hinzu und wies mit dem Kopf in ihre Richtung, aber er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht. Er trug einen Vollbart und das dünne Haare wellig aus der Stirn gekämmt, wie es heute keiner mehr hatte, aber vielleicht war das Mode in Afrika.
»Sie sind gerade aus dem Ausland zurückgekehrt?«, fragte sie, als er nichts sagte. Er lächelte und sie sah, dass seine Zähne klein waren und in einem Abstand voneinander standen wie bei einem Raubtier, obwohl es bei ihm nicht gefährlich wirkte.
»Seit zwei Tagen bin ich aus dem Süden Afrikas zurück. Ich war in der Mission tätig, ein Jahr lang.«
»Bleiben Sie jetzt für immer hier oder ist es nur ein kurzer Heimaturlaub?«
»Ich werde zurückkehren nach einer gewissen Zeit«, sagte er und lächelte wieder, als habe er nur einen Scherz gemacht.
Während sie überlegte, was sie noch sagen könnte, begann ihr Bauch wieder zu knurren, noch lauter als vorhin. Sein eben noch lächelndes Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck der Bestürzung.
»Sie haben Hunger!«, rief er so laut, dass sich ein paar der anderen Gäste nach ihnen umwandten. »Kommen Sie, kommen Sie nur«, meinte er dann und machte ein paar Schritte in Richtung Tür, dann drehte er sich nach ihr um, ob sie ihm auch folgte.
Sie gingen durch den Korridor in eine Küche, die so groß war wie ihre ganze Wohnung in der Königsstraße. Am Tisch schälten zwei Mädchen Kartoffeln, einem von ihnen flüsterte Packenius etwas zu, worauf er zum Herd ging und aus einem dampfenden Kessel Suppe schöpfte, einen Teller voll. »Bitte schön«, sagte Packenius wieder, zeigte die kleinen Zähne und reichte Dorothea einen Löffel.
»Nein«, wehrte sie ab. »Ich bin gar nicht hungrig.« Aber dann knurrte ihr Magen wieder, so laut, dass es sogar das Dienstmädchen hörte und lächelte. »Also gut«, murmelte sie und nahm den Löffel.
Er setzte sich neben sie und sah ihr beim Essen zu, in leicht vorgebeugter Haltung und mit geneigtem Kopf, als wollte er kontrollieren, dass sie auch wirklich alles aufaß.
»Danke«, sagte sie schließlich und schob den Teller von sich. »Vielen Dank.«
Er nickte und lächelte.
»Ich muss jetzt zurück, meine Eltern suchen mich bestimmt.«
Er stand auf und sie stand auf und plötzlich standen sie sich eng gegenüber. Sie traten beide einen Schritt zurück und senkten die Köpfe. Dann brachte er sie zurück zum Saal, aber er ging nicht mit ihr hinein, er öffnete nur die Tür für sie und blieb auf der Schwelle stehen.
»Auf Wiedersehen, Fräulein Dorothea«, sagte er. »Gott segne Sie.« Wieder sprach er so laut, dass ihnen viele die Köpfe zuwandten.
»Auf Wiedersehen, Herr Packenius«, meinte Dorothea hastig. Dann ging sie in den Saal und drehte sich nicht mehr nach ihm um.
Als sie am nächsten Morgen in die Alte Freiheit einbog, verließ die Frau mit den hoch aufgetürmten schwarzen Haaren die Leihbibliothek. Dorothea erkannte sie sofort wieder, obwohl es beinahe ein Jahr her war, dass sie sie gesehen hatte. Die Frau kam auf sie zu und war fast an ihr vorbei, als auch sie Dorothea erkannte und stehen blieb. Sie schauten sich einen Augenblick lang an, Dorothea fühlte, wie die Augen der anderen an ihrem Körper entlangglitten, abschätzend und verächtlich, und wie ihr Blick schließlich in ihrem Gesicht landete. Es war fast wie eine Berührung, wie ein hastiges, grobes Abtasten.
Dorothea ließ die Blicke schweigend über sich ergehen, dann wandte sich die Frau ab und lief weiter. Dorothea ging auch weiter, aber mit langsamen Schritten. Es hatte so viel Hass in diesem Blick gelegen, so viel Abscheu, vielleicht ging es doch um Geldgeschäfte, vielleicht verachtete die Frau sie, weil sie für einen gierigen Juden arbeitete. Aber es passte einfach nicht zu Kirschbaum, jetzt, da sie ihn ein Jahr lang kannte, passte es noch weniger zu ihm. Ein anderer Gedanke, ein anderer Verdacht passten dagegen viel besser, auch zu dem wenigen, was sie von ihm wusste. Dass diese Frau seine Frau war.
Sie beschloss, Kirschbaum einfach zu fragen, was es mit der Fremden auf sich hatte. Aber als sie die Tür zur Bibliothek aufstieß und Kirschbaum sah – er stand oben auf der Leiter vor dem Regal Be bis Chr und wirkte so klein, obwohl sie zu ihm aufblickte –, da wusste sie, dass sie die Fremde nicht erwähnen würde, dass sie lieber gar nicht wissen wollte, wer sie war.
»Wie geht es Ihrer Tante?«, fragte er beim Mittagessen.
»Es sieht sehr schlecht aus«, meinte sie. »Vielleicht ist morgen schon alles zu Ende.«
Er nickte und nahm ein paar Bissen von seinem Gemüse, kaute langsam und schluckte und dachte nach. »Und dann? Was werden Sie dann tun?«
Sie zuckte mit den Schultern. Sie hatte schon so viel darüber nachgedacht, sie war müde vom Seufzen und hatte mit ihren Tränen ihr Bett geschwemmt, aber es hatte nichts gebracht, sie fand keine Lösung, weil es keine Lösung gab. Jetzt schob sie den Gedanken einfach weg, sobald er auftauchte. Sie würde sich damit auseinandersetzen, wenn es so weit war. Morgen oder übermorgen.
»Fräulein Leder«, sagte Kirschbaum, als sie nicht antwortete. »Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen helfen kann in Ihrer Lage. Ich kann Ihnen Ihre Entscheidung nicht abnehmen, aber ich habe etliche Mittel, wenn Sie also Unterstützung benötigen sollten, wenn es daran liegt ...«
Sie hob den Kopf und starrte ihn ungläubig an. Bot er ihr Credit an? Zeigte er jetzt sein wahres Gesicht?
»Ich will Ihr Geld nicht«, stieß sie hervor und dabei klang ihre Stimme kälter, als sie es beabsichtigte.
Er wirkte zuerst ratlos, aber dann senkte er den Blick, weil er verstanden hatte. »Ach ja«, murmelte er und lächelte traurig in die Hand, auf die er sein Gesicht stützte. »Die Juden und das Geld, das ist ja so eine Sache, das habe ich gar nicht bedacht. Da habe ich nun meinen Glauben verloren, aber von meiner Religion kann ich mich nicht lösen.«
»Nein«, sagte sie und mit einem Mal schämte sie sich so, wie sie sich noch nie einem Menschen gegenüber geschämt hatte, auch wenn ihr Vater und ihre Mutter und die halbe Gemeinde jetzt in die Bibliothek gekommen wären und sie hier am Tisch gesehen hätten, hätte sie sich nicht schlimmer fühlen können. »Das haben Sie falsch verstanden, das habe ich bestimmt nicht so gemeint.«
Aber er war schon aufgestanden und trug seinen Teller und sein Besteck zum Spülstein, obwohl er noch gar nicht aufgegessen hatte, und er sah sie dabei nicht an.
Nach dem Essen ging sie in die Nordstadt und als sie die Tür zu Liobas Häuschen aufschloss, löste sich eine Gestalt aus einer Toreinfahrt, aus dem Augenwinkel sah sie einen Mann auf sich zukommen. Sie beeilte sich mit dem Schlüssel, hier oben hinter der Gathe trieben sich so viele zwielichtige Gestalten herum, aber bevor die Tür offen war, hatte der Mann sie erreicht. »Fräulein Dorothea«, sagte er und sie erkannte Andreas Packenius, der mit einem breiten Lächeln auf sie zukam.
»Habe ich Sie erschreckt?« Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich seine