Das Medaillon. Gina Mayer
Sie eintreten?«, fragte sie ihn.
Er hob erschrocken beide Hände. »Nein, nein! Ich wollte Sie etwas fragen und Ihre Eltern waren so freundlich, mir mitzuteilen, wo Sie wohnen«
Er war also bei ihren Eltern gewesen und sie hatten ihm Liobas Adresse genannt, einem jungen Mann, den sie gar nicht kannten, aber natürlich war er aus der Gemeinde und zudem Missionar.
»Worum geht es denn?«, fragte sie, eine Hand schon an der Tür. Erst das Mittagessen mit Kirschbaum, den sie so gekränkt hatte. Und jetzt dieser Missionar. Es gefiel ihr nicht, dass er hier war, wenn er öfter kam, würde er schnell feststellen, dass sie tagsüber nicht zu Hause war, vielleicht hatte er ja jetzt schon einen Verdacht geschöpft.
»Würden Sie mit mir spazieren gehen, am Sonntag nach der Kirche?«, fragte Packenius.
»Das geht nicht, leider. Während des Gottesdienstes habe ich jemanden für Tantchen, aber danach muss ich mich wieder um sie kümmern.«
»Ihre Mutter hat sich angeboten.“ Er öffnete den Mund und lächelte sein harmloses Raubtierlächeln und das machte sie wütend.
»Hat sie das?«, fragte sie spitz. »Nun, dann ist die Sache ja abgemacht. Warum fragen Sie mich überhaupt noch?«
Das Lächeln hing noch eine Weile in seinen Zügen, dann verschwand es.
»Wir sehen uns also am Sonntag«, meinte sie. »Und kommen Sie bitte nicht mehr hierher. Es ist ... wegen der Nachbarn. Sie verstehen?«
»Ich verstehe.« Er flüsterte es fast.
Nach dem Gottesdienst wartete er auf sie, mit gesenktem Kopf, den Hut tief in die Stirn gezogen. »Geh schon zu ihm«, sagte ihre Mutter, während sie Dorothea die Bibel und das Gesangbuch aus der Hand nahm.
»Es wird nicht lange dauern, ich bin baldmöglichst wieder zurück«, meinte Dorothea, hauptsächlich um ihre Mutter zu ärgern, der so viel daran lag, dass sie sich gut mit dem Missionar verstand.
Sein Gesicht leuchtete auf, als er sie sah, und sein Oberkörper beugte sich ihr entgegen, während er ihr die Hand schüttelte. »Wenn Sie einverstanden wären, gehen wir auf die Hardt«, schlug er vor.
Sie zuckte mit den Schultern und spürte die Blicke ihrer Mutter in ihrem Rücken. »Wie Sie wollen.«
Es war ein heißer Sommertag und der Himmel war wie Glas vor einer blauen Leinwand. Der Weg zum Aussichtsturm schlängelte sich durch Wiesen, vor ihnen lag die bewaldete Kuppel der Anhöhe, aber wo sie gingen gab es kaum einen Baum, der Schatten warf. Andreas Packenius machte große Schritte und pries abwechselnd das gute Wetter und den blauen Himmel und Gottes schöne Natur. Das gleichzeitige Gehen und Reden und die Hitze setzten ihm zu, seine Schläfen glänzten vor Schweiß, durchsichtige Perlen rollten über die Wangen in den dunklen Vollbart, der so dünn war, dass die Haut darunter hervorschimmerte. Er zog ein Taschentuch aus der Jacke und wischte sich damit über das Gesicht. Sie wunderte sich, dass er so schwitzte, er musste die Hitze doch gewöhnt sein.
»In Afrika ist es jetzt Winter«, sagte er, als habe er ihren Gedanken erraten.
»Winter? Mit Schnee und Eis, meinen Sie?«
»Nein, natürlich nicht.« Er zeigte die kleinen, spitzen Zähne. »Mit Regen, Unmengen von Regen, gerade jetzt im August.«
»Regen mitten in der Wüste«, sagte sie ungläubig.
»Es ist nicht alles Wüste in Afrika. Im Kapland, wo ich war, ganz an der südlichen Spitze, gibt es grüne Hügel und Felder und Blumen, sogar Weinberge, ganz so wie hier, nur dass alles noch prachtvoller und üppiger ist.«
»Und Urwälder«, ergänzte sie.
»Nein, Urwälder gibt es dort nicht.«
»Aber wilde Tiere, die gibt es doch, oder ist das auch alles erfunden?«
»Affen und Löwen, ja. Aber nicht in der Missionsstation, man hört sie nur zuweilen brüllen. Einen richtigen Löwen habe ich selbst nur einmal zu Gesicht bekommen, und zwar aus der Ferne.«
»Aha«, nickte sie. »Und die Menschen, die dort leben? Die sind doch allesamt schwarz, so wie das Negermädchen im Hause Ihrer Eltern.«
»Ja, die Eingeborenen sind Neger, das ist wohl richtig.«
Sie hatte sich fest vorgenommen, ihm die kalte Schulter zu zeigen, zu schweigen, so dass er sie künftig in Ruhe lassen würde, aber was er erlebt hatte, interessierte sie. Sie erinnerte sich an einen Artikel, den sie in einer Ausgabe von Westermanns Illustrierten Monatsheften gelesen hatte. Über einen englischen Missionar in Afrika, vielleicht kannte ihn Packenius ja sogar persönlich.
»Livingstone«, sagte sie. »Kennen Sie David Livingstone?«
Er sah sie mit großen, runden Augen an. »Wer?«
»Ein englischer Missionar, der das südliche Afrika auf Reisen erkundet und die Wilden bekehrt«, erklärte sie, voller Überraschung, dass ihm der Name nicht vertraut war.
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es sind so viele dort und auf Reisen bin ich persönlich nie gewesen. Es ist mir zu riskant und die Arbeit in der Mission lässt einem ja auch wenig Zeit.«
»Aha.“
»Wissen Sie«, sagte er, »unser Leben als Missionare in Afrika unterscheidet sich im Wesentlichen wenig vom Leben hierzulande. Die Hitze, der Regen, das extreme Wetter, ja das lässt sich nicht zähmen, aber ansonsten ist es ja unser Anliegen, den Eingeborenen die Zivilisation näherzubringen, ihnen eine Kultur zu geben und die rechte Religion. Deswegen darf man sich eine Missionsstation auch nicht als Negerkral vorstellen. Die Missionare in der Station Wupperthal bei Clanwilliam, wo ich war, wohnen in ordentlichen Steinhäusern, bescheiden, aber durchaus zivilisiert.«
»Aha«, sagte sie noch einmal. »Und was tun Sie dort auf Ihrer Missionsstation? Man kann doch nicht von früh bis spät taufen.«
»Nein«, sagte er ernsthaft, fast erschrocken. »Predigen und Bekehren ist nur ein Teil. Zur Station gehört ein weites Weideland, etliche Obstplantagen und Tabakfelder, die es zu bewirtschaften gilt. Die Hottentoten, die dort leben, müssen angeleitet und überwacht werden, das ist recht mühsam, denn die meisten von ihnen sind nicht an Arbeit gewöhnt, so dass man sie ständig antreiben muss.«
»Das war also Ihr Bereich? Die Landwirtschaft?«
»Ich habe auch missioniert und etliche Kinder getauft und auch Erwachsene. Aber es ist nicht immer der Hunger nach dem Wort des Lebens, der die Neger zu uns treibt. Viele kommen, weil es Arbeit auf der Station gibt und Brot und eine Schule für die Kinder. Manche erscheinen auch aus bloßer Neugierde, weil sie noch nie in ihrem Leben einen zivilisierten Menschen gesehen haben. Sie sind dann voller Furcht, aber einige treten mutig vor und berühren unsere Haut, weil sie glauben, dass wir uns nur mit weißer Farbe bemalt haben.«
Dorothea dachte an das schwarze Dienstmädchen und dass sie ihr dunkles Gesicht auch gerne berührt hätte.
Andreas Packenius fuhr fort zu reden, er erzählte davon, dass sie nicht nur die Negerkinder im Lesen und Schreiben unterrichtet hatten, sondern auch die Erwachsenen, denn es gab kaum Schulen in Afrika, und dass ein Missionar nicht nur Seelsorger, sondern auch Arzt und Pfleger war, weil es dort nur Medizinmänner gab, die die Krankheiten mit greulichen Masken und Hokuspokus zu vertreiben versuchten. »Mit allerlei heidnischem Hexenzauber«, sagte Packenius und während Dorothea ihm zuhörte, sah sie einen kleinen Herrn, der ihnen vom Aussichtsturm her entgegenkam, ein rundlicher Mann mit breitkrempigem Hut und Spazierstock. Die laute Stimme des Missionars wurde zu einem Dröhnen, als sie Isaak Kirschbaum erkannte und im selben Moment blickte er auf und ihre Augen begegneten sich. Er wandte sein Gesicht sofort wieder ab und ging weiter, ohne irgendeine Regung zu zeigen, aber sie wusste, dass er sie erkannt hatte und dass er sie nicht begrüßen würde, weil ihre Verbindung geheim bleiben musste.
Sie hätte den Missionar am liebsten stehen gelassen und wäre zu Kirschbaum gegangen. Je näher er ihnen kam, desto größer wurde ihr Bedürfnis, er war so allein, und sie war es auch, obwohl sie Packenius an ihrer