Das Medaillon. Gina Mayer
...«
Er machte eine Pause und rang nach Worten. Rosalie starrte auf ihre Schuhspitzen und wartete darauf, dass ihr Körper auf dem Bürgersteig zerfloss und in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen versickerte.
»Aber es kann nicht sein, unsere Verbindung muss beendet werden«, fuhr er endlich fort. »Sie muss beendet werden, bevor sie richtig begonnen hat, auch wenn es mir in der Seele schmerzt.«
Unsere Verbindung muss beendet werden. Als ob nicht er und nicht sie, sondern irgendein Dritter die Beendigung der Verbindung erledigen sollte.
»Wenn es eine Möglichkeit gäbe«, sagte er, »irgendeine Möglichkeit, so wollte ich sie sofort ergreifen, aber ich sehe keine.«
Seine Augen glänzten, vielleicht waren es Tränen, vielleicht war es aber auch nur die Frühlingssonne, die sich in der dunklen Iris spiegelte.
»Es ist nämlich so, dass ich verheiratet bin«, erklärte er.
Es dauerte eine Weile, bis die letzten fünf Worte durch ihr aufgeweichtes Inneres in ihr Bewusstsein gespült worden waren. Als sie endlich begriff, spürte sie nichts. Kein Erstaunen, keine Trauer, keine Wut. In ihr war alles leer. Das war es also, da war die geheimnisvolle dritte Person, die ihre Verbindung für sie beenden würde. Seine Frau.
»Wo ist sie denn?«, fragte sie mit einer fremden, ruhigen Stimme. »Ihre Frau?«
»Zu Hause«, sagte Minter. »Jedenfalls heute.«
»Kommen Sie«, meinte er dann und setzte sich in Bewegung. Er bog am Wirmhof in Richtung Herzogstraße ein und sie folgte ihm, wie sie ihm auch vorhin gefolgt war.
Die folgenden Ereignisse nahm sie mit einer solchen Klarheit wahr, dass sie sich später an jeden Eindruck, jedes Detail erinnern konnte und alles genau hätte erzählen können, wenn sie danach gefragt worden wäre. Minter und sie gingen durch das düstere Treppenhaus, in dem es nach Grünkohl roch, der Schlüssel machte ein kratzendes Geräusch im Schloss und als er die Tür öffnete, knirschte es, so als rieben winzige Steine oder Sandkörner zwischen Türblatt und Boden. Es waren auch Kratzspuren auf den schwarz-weiß-gesprenkelten Fliesen zu sehen.
»Maria«, rief er leise. Er hängte seinen Mantel an einen Haken hinter der Tür und half Rosalie aus ihrem Mantel und hängte ihn daneben. Dann gab er ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und obwohl sie ganz normal auftraten, hatte sie das Gefühl, dass sie auf Zehenspitzen gingen.
Ihr Herz schlug schneller, als sie sah, wie sich die Tür am Ende des Flurs öffnete, nur einen Spalt breit und aus dem Spalt schob sich ein junges Mädchen, sie war vielleicht sechzehn, höchstens achtzehn. Rosalie kannte sie, Maria Wandler, sie waren zusammen zur Volksschule gegangen, aber Maria war eine oder zwei Klassen unter ihr gewesen.
»Sie ist ganz ruhig«, sagte Maria.
»Danke«, sagte Minter. »Du kannst dann auch gehen, ich komme nun allein zurecht.«
»Maria hilft mir, wenn Afra hier ist«, erklärte er, als sie weg war. »Ich habe sie allerdings gebeten, nicht darüber zu reden.«
Afra, dachte Rosalie. Sie sah seine helle Hand auf dem dunklen Holz der Tür, die immer noch angelehnt war. Das hohe grünliche Rechteck in der Wand, ein Fenster hinter zugezogenen Vorhängen. Und dann, als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, ein Bett und eine junge Frau in einem weißen Nachthemd.
»Ich bin es, Afra«, sagte Minter. Er ließ Rosalie mitten im Raum stehen und ging zum Fenster. Zog die Vorhänge auf und öffnete das Fenster. Rosalie atmete auf, als die kühle, frische Luft hereindrang. »Ich habe Besuch mitgebracht.«
Er trat mit Rosalie zum Bett. Afra hatte helles, lockiges Haar und feine Gesichtszüge, eine schmale, gerade Nase, zart geschwungene Augenbrauen und fast weiße Wimpern über graugrünen Augen. Sie war einmal schön gewesen, aber jetzt war sie es nicht mehr. Ihr Mund stand halb offen, die Unterlippe hing schlaff nach unten und während Rosalie sie ansah, glitt ein silbriger Speichelfaden aus ihrem Mund und rann ihr Kinn entlang. Minter nahm ein Tuch von der Kommode und wischte ihn ab, ganz behutsam.
»Ein schweres Nervenfieber vor vier Jahren«, sagte er. »Seitdem ist sie, wie sie ist.« Sie waren ans Fenster getreten und atmeten frische Luft, während Afra im Bett saß und auf ihre Hände stierte, als fragte sie sich, zu wem sie gehörten.
»Wo ist sie denn untergebracht, wenn sie nicht hier ist?«, fragte Rosalie.
»In Endenich, in einer Nervenheilanstalt«, erklärte Minter. »Ich hole sie alle paar Wochen den Sonntag über hierher, zuweilen auch an Feiertagen, aber es ist sehr schwierig. Wenn sie ruhig ist wie jetzt, ist es natürlich kein Problem, aber mitunter wird sie sehr ungehalten, fast gewalttätig. Dann lässt sie sich von Maria kaum beruhigen.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Locken und hielt mitten in der Bewegung inne, als fehlte ihm die Kraft, fortzufahren.
Rosalie dachte an das Klopfen und Hämmern, das sie in der Apotheke gehört hatte, als sie Minter das erste Mal gesehen hatte und noch einmal mit Dorothea. »Und niemand weiß von ihr?«, fragte sie dann. »Niemand außer Maria?«
»Die Frau, die den Haushalt macht, kennt sie. Ansonsten lebe ich recht zurückgezogen.« Minter schwieg einen Moment lang, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Niemand.«
Und wie lange wird es dauern, bis sie stirbt, dachte Rosalie. Aber diese Frage konnte sie Minter natürlich nicht stellen, nicht hier in diesem Raum und auch sonst nicht.
»Keiner weiß, wie lang es so gehen kann«, sagte Minter, der ihren Gedanken erraten hatte. »Sie kann heute noch sterben. Sie kann uns alle überleben.«
Rosalie nickte und starrte in den Hinterhof vor dem Fenster. Unten hatte jemand Blechdosen und Eimer mit Erde gefüllt, um darin Blumen oder Gemüse zu pflanzen. Eine Gießkanne stand neben den Gefäßen, als könnte der Gärtner die Aussaat der Pflanzen gar nicht mehr erwarten.
»Es kann nicht weitergehen«, sagte Minter. »Zwischen Ihnen und mir.«
Aber sie wussten beide, dass das nicht stimmte. Und dass ihre Geschichte nicht am Ende war, sondern soeben erst begonnen hatte.
6. Kapitel
„Wir mögen daher ein System von Organen vornehmen, welches wir wollen, die Vergleichung ihrer Modificationen in der Affenreihe führt uns zu einem und demselben Resultate: daß die anatomischen Verschiedenheiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schimpansen scheiden, nicht so große sind, als die, welche den Gorilla von den niedrigeren Affen trennen ... Und so kommt denn der vorausblickende Scharfsinn des großen Gesetzgebers der systematischen Zoologie, Linné, zu seinem Rechte; ein Jahrhundert anatomischer Untersuchung bringt uns zu seiner Folgerung zurück, dass der Mensch ein Glied derselben Ordnung ist ... wie die Affen und Lemuren.«
(aus »Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur« von Thomas Henry Huxley, 1863)
Tante Lioba wurde immer kleiner. Vielleicht würde sie niemals sterben, sondern nur immer weiter in sich zusammensinken, der Kopf in den Hals, der Hals in die Schultern, die Schultern in den Rücken und so weiter, bis sie irgendwann so winzig wie eine Ameise wäre und dann ganz verschwunden. Es gab jetzt Tage, an denen sie ganz klar war, aber Dorothea hatte keine Angst mehr, dass sie sie verraten könnte. Tantchen hatte von allem Abschied genommen, sie interessierte sich für nichts mehr, ob Dorothea da war und sich um sie kümmerte oder ob Walpurga neben ihr saß, es schien sie nicht zu berühren. Von diesen irdischen Dingen hatte sie sich abgewandt, aber zum großen Kummer von Dorotheas Eltern wandte sie sich stattdessen nicht dem Überirdischen zu. Sonntags nach der Kirche gingen sie sie jetzt immer besuchen, um mit ihr zu beten und sie auf das Jenseits vorzubereiten, aber während Herr Leder die Psalmen vorlas und Frau Leder und Dorothea die Augen auf die gefalteten Hände senkten, saß die Tante in ihrem Lehnstuhl und schaute auf ihre Holzpantoffeln, die viel zu groß geworden waren für ihre kleinen Füße, und schien über alles Mögliche nachzudenken, nur nicht über ihr Seelenheil.
»Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach. Heile mich, Herr,