Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann
mit seiner Stimme und mit der Zeit umgeht und auf die Musikalität der Zuhörenden eingeht.
Dialog durch Worte
Damit eine Interaktion dialogisch ist, reicht es nicht, dass Rede auf Gegenrede folgt. Es muss eine Ergänzung entstehen – so, wie eine Frage eine Antwort ergänzt, wie ein Beispiel eine These ergänzt oder das Lachen einen Witz. Auf der verbalen Ebene geschieht dies durch Offenheit, durch die Bereitschaft, von den Zuhörenden Neues zu erfahren.
Zeichen dieser Offenheit sind sprachliche Handlungen, die weitere Handlungen provozieren.
Aber auch eine besondere Formulierungsweise kann diese Beziehung herstellen. Allein schon der Satzbau oder die Wortwahl kann die Rednerin dem Publikum näherbringen.
Ein Indiz für dialogisches Vorgehen ist der Umgang mit Fragen: „Das ist ziemlich paradox, nicht wahr?“ sagt die Referentin im Vortrag als Kommentar zu ihren bisherigen Ausführungen. Dieses „nicht wahr?“ kann eine reine Floskel sein. Es kann aber auch als Mittel der Verständigung benutzt werden, wenn danach eine Pause folgt, ein Blick ins Publikum, so dass die Möglichkeit besteht, dass sich jemand von den Zuhörenden meldet und einen Kommentar abgibt. Dies wäre eine offene Verwendung der Phrase „nicht wahr?“. Es braucht den Mut zur Pause und die Freiheit, die Worte zu ihrem Nennwert zu nehmen. Für eine Rednerin, die ins Publikum blickt und jeden Satz mit Blickkontakt spricht, darauf achtend, ob die Zuhörenden ihr Tempo mitmachen, ist auch eine derartige Frage eine Aufforderung zum Mitdenken und bestenfalls auch zum Mitreden.
Die Kommunikationsform der Bescheidenheit
Eine Rede im Zeichen des Dialogs betont die soziale Funktion des Redens. Eine Rednerin ist immer in Beziehung – zu ihrem Thema wie auch zu den Menschen, an die sie sich wendet. Reden vor Publikum bedeutet in Kontakt zu treten. Rede als Dialog verstanden, hilft dabei, das Publikum auf Sach- und Beziehungsebene auf Augenhöhe anzusprechen. Dialogische Elemente helfen, auf das Publikum adäquat einzugehen – mit Stimme, Worten und Gesten. Nur schon dadurch, dass dank der dialogischen Einstellung das Tempo und die Pausensetzung positiv beeinflusst werden, wird gewährleistet, dass das Publikum die Gedankengänge mitmachen und die Rede verstehen kann. Eine Rednerin, die dialogisch vorgeht, wird auch rechtzeitig erkennen, wenn einzelne Ausdrücke oder ganze Passagen der Rede nicht verstanden werden und entsprechend reagieren können. Dialogische Vorträge sind verständlicher und attraktiver.
Rednerinnen, die ihre Aufgabe als Dialog verstehen, erzielen kreativere Resultate als reine Performer. Sie erkennen rechtzeitig, ob die Zuhörenden ihnen folgen. Oft führt die gemeinsame Reise an einen unerwarteten Ort, weil Rednerin und Zuhörende aufeinander eingegangen sind.
Ein dialogischer Ansatz erlaubt Bescheidenheit. Die Rednerin, die dialogisch vorgeht, gibt genau so viel von sich selbst preis, wie es die Situation erfordert. Dank der Rückkoppelung mit dem Publikum driftet sie nicht in einen Soloflug ab, bei dem alles nur noch Präsentation ist. Sie weiß, dass sie nach ihrer Rede wieder eine von ihnen sein wird und die nächsten Beiträge von anderen geleistet werden.
Aus der Tatsache, dass den Menschen das alltägliche, dialogische Gespräch leichter fällt als das öffentliche, monologische Reden, lassen sich folgende Anhaltspunkte für ein konstruktives Vorgehen ableiten.
[1]Sorgen Sie dafür, dass Sie sich in der öffentlichen Situation möglichst wohlfühlen. Dies können Sie auf mehreren Ebenen tun. Eine Möglichkeit besteht darin, möglichst viele Elemente des Dialogs einzubauen. Es führt dazu, dass die Leistung des „Solisten“ vom Orchester ergänzt wird.
[2]Entscheiden Sie sich zwischen Show und Verständigung. Wollen Sie eine One-Man/Woman-Show oder den Dialog? Die Show ist das, was uns Martin Luther King, John F. Kennedy oder Barack Obama vorgemacht haben. Ihr Ziel war es, für ihre Sache zu werben, wobei sie einen Stab an Beratern und Freunden hatten, die für sie die wirksamen Worte mit einer passenden Dramaturgie versahen. Der Dialog dagegen ist, was jeder aus dem Alltag mitbringt – ein Reden mit dem Publikum und nicht für oder gegen das Publikum. Wer sich für die dialogische Rhetorik entscheidet, braucht keine Perfektion anzustreben. Er muss nicht um vorbereitete Effekte bangen. Er weiß, dass das Wichtigste nicht darin besteht, die Menschen zu unreflektiertem Jubel zu bringen, sondern etwas mit ihnen zu teilen.
[3]Betrachten Sie die anstehende Redeaufgabe nur als Teil eines Diskurses. Es kommt nicht auf diese eine Rede an. Sie gehört zu einem Prozess der Erkenntnis, des Lernens, der Meinungsbildung und führt diesen etwas weiter. Eine Rede ist meistens weniger bedeutsam, als es dem Redner scheint. Dies zu wissen, kann vom Leistungsdruck entlasten und die Freude am Dialog fördern.
[4]Lassen Sie sich Zeit. Eine Rede anzufangen, bedeutet, geduldig zu sein. Wenn das Ende naht, ist oft Zeit für eine kurze Pause.
[5]Machen Sie Angebote. Geben Sie klare Botschaften. Machen Sie deutlich, was Sie zu bieten haben, und was Sie von den Zuhörenden erwarten. Aber betrachten Sie, was Sie zu sagen haben, als Angebot, nicht als Werbespruch. Wer weiß, dass er etwas zu geben hat, strahlt auch aus, dass dies wichtig ist und beiden Teilen Gewinn bringen wird.
[6]Lassen Sie die Zuhörenden ihre Plätze so einnehmen, dass Sie leicht in Kontakt kommen und wählen Sie auch für sich selbst den optimalen Platz. Dies ist nicht immer, aber in vielen Fällen möglich. Man muss sich nur trauen und sich die Zeit dazu nehmen.
[7]Sorgen Sie dafür, dass etwas zurückkommt: Stellen Sie eine Frage oder lachen mit den Leuten. Seien Sie bereit, die Antworten oder anderen Reaktionen anzunehmen. Sie brauchen sie nicht gutzuheißen, aber Sie sollten sie anerkennen.
[8]Beziehen Sie Position. Machen Sie transparent, wie Sie zu der Sache stehen, die Sie präsentieren, auch wenn es sich um gesicherte wissenschaftliche Fakten handelt. Und interessieren Sie sich für die Beziehung, die Ihre Zuhörenden dazu haben.
[9]Sprechen Sie das Publikum nicht nur auf der rationalen, sondern auch auf der emotionalen und kreativen Ebene an. Versuchen Sie, Ihre Zuhörenden nicht nur zu „aktivieren“, sondern betrachten Sie auch dies als eine Aufgabe, die gemeinsam gelöst werden kann.
[10]Führen Sie, wo immer es geht, monologische Redesituationen in dialogische über. Fragen Sie sich, wie lange Sie den vorgegebenen Rahmen akzeptieren müssen und ab wann es effizientere Möglichkeiten gibt. Oft ist ein Gespräch viel zielführender als eine lange Ansprache. Es