Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann

Konstruktive Rhetorik - Jürg Häusermann


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typische Situation: Die Dozentin betritt den Raum, stellt sich hinter das Podium und will beginnen. Sie bemerkt, dass noch viel Unruhe herrscht, nur wenige sehen zu ihr hin, alle scheinen mit sich beschäftigt oder im Gespräch. Sie könnte jetzt einfach anfangen zu reden und hoffen, dass es allmählich ruhig wird. Aber sie entscheidet sich für etwas anderes: Sie geht nochmals vor die Tür, tritt nochmals ein und schlägt resolut die Tür hinter sich zu. Die Zuhörenden schrecken hoch, blicken zu ihr hin und folgen ihr mit ihren Blicken. Dann steht sie vor ihnen und statt einfach mit Reden zu beginnen, verstärkt sie den Blickkontakt. Das ist das erste Signal für Gemeinsamkeit. Es verpflichtet beide Seiten zum Dialog.

      Dies ist gemeint, wenn von einer dialogischen Einstellung, einer dialogischen Haltung des Redners gesprochen wird. Sie besteht in der Aufmerksamkeit für das Publikum, in der Achtung vor den Zuhörenden als potenziellen Mitredenden.

      Die klassische Redelehre wendet sich an den Einzelnen, der mit einem klaren Ziel sein Publikum führen will. „Die Rhetoriktheorie interessiert sich nicht für den Kommunikator in Hinblick auf seine Rolle als Mitspieler im Konzert der kommunikativen Welt, sondern in Hinblick auf seine Rolle als Solist oder Dirigent, falls er den Taktstock ergreifen sollte.“ So beschreibt es Joachim Knape.96 Dialog dagegen, ebenso extrem verstanden, ist offen in Bezug auf den Ausgang. Die Teilnehmenden sind gleichberechtigt und treffen eine Übereinkunft in Bezug auf den Verlauf und das zu erreichende Ziel. Die Menschen, an die man sich richtet, auch wenn sie „nur“ Publikum sind, werden als gleichberechtigt verstanden.

      Noch einfacher gesagt, gehört zum Dialog, dass sich der Redner für die Zuhörenden interessiert – nicht nur dafür, wer sie sind und was sie erwarten, sondern auch dafür, was sie zum Vortrag beizutragen haben – zum Thema, zu dessen Aufbereitung, zur Verständlichkeit und Anschaulichkeit. Dialogisch ist eine Rede erst dann, wenn der Redner die Reaktion des Publikums, dessen Zustimmung oder Gegenrede, wahrnimmt. Zum dialogischen Reden gehört also auch, dass auch der Redner zum Zuhörenden wird, dass er sich Zeit nimmt, darauf zu achten, wie seine Rede aufgenommen wird.

      Dialog auf der Sachebene

      Zwar beginnt jede Rednerin ihre Rede vor Publikum mit einem klaren Ziel. Sie will aufklären, motivieren, instruieren oder missionieren. Auf den ersten Blick ist das ein klares Gegenstück zu den typischen Zielen des dialogischen Gesprächs: Es gibt Gespräche, die nur den gemeinsamen Informationsstand oder den Stand der Beziehung klären wollen. Es gibt Gespräche, die der Lösung eines Problems oder eines Konflikts dienen. Es gibt Streitgespräche, in denen Standpunkte verglichen und gegeneinander abgewogen werden. Für all diese Dinge wird man keine Rede vor Publikum wählen. Was aber Gespräch und Rede eint, ist das Ziel, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen.

      In der als Dialog verstandenen Rede vor Publikum kann das Ziel genau gleich formuliert werden: zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Sogar der Prediger auf dem Marktplatz, der von seinem Erweckungserlebnis berichtet, um die Passanten zur Umkehr zu bewegen, wird gut daran tun, ihnen entgegenzukommen – nicht nur, indem er seine Worte ihrem Alltagswortschatz und seine Satzlängen ihrer Konsumhaltung anpasst, sondern vor allem auch dadurch, dass er ihnen zuhört und in der Reaktion auf deren Verhalten seine Redeziele allenfalls herunterschraubt.

      Dialog durch visuelle Wahrnehmung

      Dialogisches Reden zeigt in Körperhaltung, Gestik und Blickkontakt die Bereitschaft, mit den Zuhörenden zu interagieren – und zwar mit allen. Nicht zuletzt zeigt sich dies in der Reaktion auf Unvorhergesehenes. Wenn etwa ein Zwischenrufer die Rede unterbricht, muss der Redner nicht nur entscheiden, mit welchen Worten er darauf eingeht. Er muss auch sicherstellen, dass der Dialog mit allen Anwesenden weitergeht. Zu leicht passiert es sonst, dass sich der Dialog einengt auf Redner und Zwischenrufer, weil er sich diesem körperlich zuwendet und die Mehrheit der übrigen Anwesenden ausschließt. Er muss gerade in einem solchen Fall verhindern, dass er nicht nur diese einzelne Person wahrnimmt. Wenn er darauf achtet, dass er weiterhin auch die Zuschauer in den anderen Teilen des Raums anspricht, wird der Zwischenruf auch nonverbal zum Problem aller und damit leichter zu bearbeiten.

      Steve Jobs, der Mitbegründer von Apple, hielt seit den 1980er-Jahren beeindruckende Reden. Noch heute, Jahre nach seinem frühen Tod, sind auf YouTube seine zündenden „Keynotes“ so beliebt, dass sie jährlich von Hunderttausenden gesehen werden. Eine davon stammt aus dem Jahr 2007. Steve Jobs präsentierte darauf bei der Macworld-Konferenz 2007 das damals neueste Produkt: das iPhone. Millionen Klicks bezeugen, dass eine Werbeveranstaltung für ein neues, aber unterdessen in die Jahre gekommenes Gerät noch immer faszinieren kann, wenn die Präsentation stimmt. Wer aber von Steve Jobs lernen will, achtet nicht auf die großartigen, einstudierten Phrasen, sondern auf Details. Jobs blieb sich selbst treu, wenn er auf der Bühne stand. Er hatte nun einmal das Glück, seinen Berufsweg als dynamische, extravertierte Persönlichkeit zu gehen, und es ist kein Wunder, dass er damit dem Ideal eines überzeugenden, siegbewussten Redners entsprach. Dennoch ließ er sich immer die Zeit, die er brauchte, um sein Publikum wahrzunehmen.

      Wenn man eine Aufnahme findet,97 bei der auch festgehalten ist, wie Jobs auf die Bühne oder zum Rednerpult kommt, kann man seine wichtigste Fähigkeit studieren: sich Zeit zu lassen, bevor er zu reden anfängt. Auch in der prestigegeladenen Graduiertenfeier der Stanford University nimmt er sich zuerst einmal Zeit. Er schaut sich um. Er blickt ins Publikum. Er lächelt. Dankt für den Applaus. Dann erst fängt er an. Und die ersten Worte kommen gar nicht so geschliffen daher. Er spricht mit Pausen, tastet sich zunächst voran, als ob er sich noch erst mit dem Publikum synchronisieren müsste. Er mag die Sätze vorbereitet haben und vollständige, klare Sätze sprechen. Aber er erlaubt sich „Ähs“ und Pausen und lange Blicke ins Publikum. Das ist so ziemlich das Gegenteil davon, was man von einem blendenden Redner erwarten würde, der sich als „insanely great“ in Szene setzt.98 Aber es ist dialogisch – nicht im Sinn von Rede und Gegenrede, sondern dialogisch durch viele kleine Elemente, die in einer solchen Situation möglich sind. Jobs nutzt Pausen, er sieht ins Publikum und spürt, ob da jemand zurückblickt. Er hört auf die Reaktionen der Zuhörenden. Das zeigt, dass auch einer, der als brillanter Redner gilt, nicht einfach als Alleinunterhalter loslegt, sondern sich mit den Menschen, zu denen er redet, abgleicht. Er gibt sich selbst und ihnen die Chance, aufeinander einzugehen.

      Dialog als Musik

      Schon die Wahl der Satzmelodie, die Betonung innerhalb des Satzes, das Setzen von Pausen kann als Mittel des Kontakts zum Publikum genutzt – oder auch verspielt – werden. Verspielt hat es 2016 Bernie Sanders, der unabhängige Bewerber um die amerikanische Präsidentschaftskandidatur. Auf seiner Wahlkampftour sprach er in Kirchen afroamerikanischer Gemeinden, in sogenannten Black Churches. Nun erwartete zwar keiner von ihm, dass er etwas anderes täte, als Reden zu halten. Aber man hatte den Anspruch, dass er auf die Anwesenden achtete und auf sie einging. Genau das gelang ihm nicht.

      Schwarze Kirchen leben vom Miteinander: Der Prediger spricht, die Gemeinde reagiert. Die Gläubigen gehen mit, rufen „Amen“ und „Halleluja“. Dies bedeutet für den Prediger, dass er wiederum bereit sein muss, dies aufzunehmen. Er soll seine Stimmkraft, seine Melodie, seinen Rhythmus anpassen. Dem 74-jährigen Bernie Sanders fehlte dies – nicht die verbale Überzeugungskraft, sondern die Fähigkeit, emotional auf das Publikum einzugehen. Man erwartete von ihm nicht, dass er „Halleluja!“ rief, aber man erwartete, dass er nicht nur sprach, sondern auch hinhörte. Oder wie es eine Abgeordnete aus South Carolina ausdrückte:

      »Ich glaube nicht, dass er schon viel mit Farbigen zu tun hatte. Ich sah ihn sprechen; er kam nicht zur Ruhe. Er ging nicht auf seine Zuhörer ein, auf ihre Körpersprache, die Mimik oder einen gewissen Rhythmus. Kein Langsamerwerden, um eine Bestätigung oder ein Amen da und dort anzunehmen oder zu erwidern. Er war kurz angebunden. Er schien sich nicht wohl zu fühlen –und man konnte es sehen.«99

      Dialog hätte darin bestanden, sich mit dem Publikum zu synchronisieren. Es hätte


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