Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann

Konstruktive Rhetorik - Jürg Häusermann


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nicht möglich ist, durch die sprecherische Gestaltung.

      Beispiele für die Mehrdeutigkeit waren in diesem Fall viele Sätze in Frageform, zudem Rechtfertigungsfloskeln in Anführungszeichen, die Jenninger den Zeitgenossen des Holocaust in den Mund legte (in der 3. Person Plural, was die Distanzierung erschwerte) und zudem nazitypische Diffamierungen. Im Manuskript standen diese in Anführungszeichen. In der mündlichen Rede waren diese nicht mehr zu erkennen.70 Ein professioneller Sprecher oder eine Schauspielerin hätten stimmliche Mittel zur Verfügung, um sich von Zitaten zu distanzieren. In einem informellen Rahmen würde es mit anderen Mitteln geklärt, es würde mit Blickkontakt überprüft, ob die Distanzierung erkannt wurde. Im Zweifel könnte man gar eine kurze Erklärung einfügen oder auf eine Zwischenfrage reagieren. In einer während der Feierstunde zelebrierten Rede geht dies aber nicht, weil die Tendenz zum Monolog auch die Tendenz zum Perfektionismus ist.

      In Manuskriptreden spiegelt sich auch der Perfektionismus, der mit monologischen Reden verbunden wird, wider. Rednerin wie Publikum erwarten kunstvoll geformte, grammatikalisch korrekte Sätze. Menschen, die als große Rednerinnen gelten, werden für die stilistischen Kunstwerke gelobt, die später in ihren gesammelten Werken nachgelesen werden können. Das erfordert eine perfekte Darbietung. Dafür gibt es aber spezielle Berufe – diejenigen der Schauspielerin und des professionellen Sprechers. Ein Handwerker, der aus seiner Werkstatt berichtet, eine Künstlerin, die ihre Plastiken präsentiert, oder auch ein schwäbischer CDU-Politiker, der über seine historischen Erkenntnisse referiert, ist mit einem zu raffinierten Manuskript überfordert.

      Fragen, die keine Fragen sind

      Kennzeichnend für das Angebot einer Interaktion ist traditionsgemäß die Frageform – außer es handelt sich um eine sogenannte rhetorische Frage. Die Zuhörenden sollen sich die Antwort selbst geben; meistens wird sie durch den Kontext insinuiert. Rhetorische Fragen sind auch im Alltag durchaus üblich. Dort ist es aber leicht, mit einer entsprechenden Intonation und Pause zu signalisieren, wie sie gemeint sind – und die Möglichkeit der Antwort oder sonstigen Reaktion ist gegeben. In der öffentlichen Rede demonstriert sie den Verzicht auf den Dialog, wenn sie nicht entsprechend eingebettet ist. Jenninger formulierte gar zehn Sätze in Frageform, die ganz unterschiedliches aussagten. Was fehlte, war die passende sprecherische Ausführung mit Intonation und Pausen, die dazu gehört, will man aus der rhetorischen Frage ein Instrument des Dialogs machen.

      In den Jahren nach der Gedenkstunde sind unzählige Analysen der Rede erschienen. Die meisten stützen sich auf den Wortlaut. Einige aber weisen auch auf die besondere Stimmung im Saal hin, die von Anfang an ein Verstehen erschwerte. Der Linguist Peter von Polenz spricht von einer „weithin oberflächlichen, unaufmerksamen und neurotischen Rezeptionshaltung,“71 Jenninger selbst sprach in einem späteren Interview von der „Eiseskälte“, die er von den Parlamentariern zum Rednerpult hochkommen spürte.72 All das sind Ausdrücke, die das Destruktive illustrieren, das mit der Verherrlichung des Monologs einhergeht.

      Die Verherrlichung des Monologs

      Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen man mal die Klappe halten und zuhören sollte. Aber auf Dauer besteht erfolgreiche Kommunikation in Rede und Gegenrede, in wechselseitigem Zuhören. Klassische Monologsituationen werden denn auch selten aufgrund der Fähigkeit des Redners, auf sein Publikum zu hören, beurteilt. Man konzentriert sich stattdessen auf die kurzfristige Wirkung, die er ausübt oder auszuüben scheint. Erfolgreiches Reden wird als „Willensbeeinflussung“73 verstanden; es ist „auf Überzeugung ausgerichtet“74 – meist ohne zu fragen, ob es wirklich möglich ist, mit einer einzigen Rede die Menschen umzustimmen oder ob dies überhaupt wünschenswert ist.

      Natürlich lassen sich monologische Botschaften am leichtesten inszenieren und je autoritärer der Rahmen ist, desto nachhaltiger wirken sie: Der Diktator ruft zum Krieg auf, die Zuhörenden schreien „Hurra“. Der Kommandant ruft: „Feuer!“, die Soldaten zünden die Geschütze.

      Als Beispiele für gelungene Überzeugungsreden werden oft spektakuläre Beispiele genannt, die einen momentanen Stimmungswechsel bewirkt haben. In einer Gemeinschaft, die sich unter dem Zeichen der Gleichberechtigung trifft, ist dies jedoch wenig konstruktiv.

      So bewundern viele die Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer beim außerordentlichen Parteitag der Grünen 1999. Die NATO bereitete sich vor, Serbien anzugreifen, um die Menschenrechtverletzungen, Ermordungen und Vertreibung zu beenden, allerdings, ohne dass der „Bündnisfall“, ein Angriff auf einen NATO-Staat, eingetreten wäre, und ohne UN-Mandat. Die rot-grüne Bundesregierung der BRD sah sich genötigt, bei diesem Krieg mitzumachen, nicht nur aus Gründen der Humanität, sondern auch um der eigenen Machterhaltung willen.75 In seinen eigenen Worten ging es darum, ob er „gestärkt aus dem Parteitag hervorging“76 oder nicht. In einer aufgeheizten Atmosphäre plädierte Fischer für die Unterstützung seiner Parteigenossen. Immerhin war es der erste deutsche Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Zeit, als Fischer noch selbst der Bundeswehr kritisch gegenüberstand, war noch nicht lange her.

      Nach der Rede (mit dem später sprichwörtlich gewordenen Ruf: „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz; nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus!“77) wurde seine Position mit 444 zu 318 Stimmen bestätigt.78 Fischers Taktik wurde später als unredlich bezeichnet, weil er wesentliche Informationen zurückgehalten hatte, die Gegenargumente geliefert hätten.79 Im Kabinett hatte man eine Entscheidung getroffen; die Meinungen der Basis sollte diese nicht mehr beeinflussen. Ein Angebot zum Dialog war die Rede nicht.

      Karl-Heinz Göttert, Kenner der Rhetorikgeschichte und Verfasser eines Buchs über „Redemacht“, sieht sie in anderem Licht. Er versteht Fischer als Nachfolger des römischen Populisten Cicero und lobt: „Welche Rede soll besser sein als diejenige, die in fast hoffnungsloser Situation überredet?“80 Das Prinzip der Rhetorik ist für ihn „die fixe Idee des Überwältigens durch (Anwendung von) Kunst.“81

      Wer einen solchen Monolog preisen will, braucht eine Vorannahme, nämlich die, dass „die Grünen“ insgesamt dem Krieg ablehnend gegenüberstanden. „Eine Mehrheit für die nachträgliche Befürwortung des NATO-Einsatzes schien unmöglich.“82 Dann kam Fischers Rede. Dann kam die Abstimmung, und die Mehrheit war dafür. „Fischer hatte den Umschwung mit überzeugenden Argumenten herbeigeführt, aber auch mit einer Sprache, die Autorität ausstrahlte,“ so Göttert.83 Genau dies gehört aber zum Mythos von der Macht der Rede: das „Überwältigen“ durch eine in den Saal gebrüllte, leidenschaftliche Rede (mit Pauschalverurteilungen, Halbwahrheiten und abstrusen Vergleichen, die einen zumindest aus der Distanz erschauern lassen können). Wenn es möglich wäre, mit einer Rede allein ein Nein in ein Ja zu verwandeln, wäre es nicht Kommunikation unter Gleichberechtigten, sondern Propaganda, Indoktrination.84

      Monolog ist auf Wirkung fixiert

      Es sind also zwei Dinge auseinanderzuhalten: Zum einen die sofortige Wirkung einer Rede, und diese wird oft magisch verklärt gesehen. Das Reiz-Reaktions-Schema, das diesem Denken zugrunde liegt, ist eine Illusion. (Die Fischer-Rede hat weder die Entscheidung der Delegierten noch die der Bundesregierung, die sich schon längst entschieden hatte, herbeigezaubert.)

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