Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann
hatten. Ihm genügte, dass sie alle zu ihm hinsahen und sich dabei, wie die Zeitzeugen versichern, verneigten.
Aber das Volk war beeindruckt. Und so ist es immer wieder. Reden, die in extremer Weise so angelegt sind, dass einer spricht und die anderen den Mund halten, haben große Anziehungskraft und werden für ihre vermeintliche Wirkung gelobt. Monolog in Reinkultur ist die Grundform öffentlicher Rede und steht weitherum in hohem Ansehen. Menschen, die ein großes Publikum anziehen und überzeugen, werden verehrt – oft, ohne dass ihre Botschaft oder ihre Argumente überprüft würden. Diese Verherrlichung des Monologs kann man den Fischen des Heiligen Antonius nicht vorwerfen, aber von den Ketzern aus Rimini (die ansonsten ganz vernünftige Ansichten hatten) hätte ich mehr erhofft.
Monologisches Vorgehen widerspricht den meisten Redezielen, zumindest überall da, wo Redner und Publikum gemeinsam ein Ziel erreichen sollen. Reden des Informierens, des Lehrens, des Zeigens, des Vorführens, des Motivierens sind effektiver, wenn sie einen möglichst hohen Anteil an dialogischen Elementen haben. Zudem machen sie es auch den Rednern leichter. Deshalb führt der Weg vom reinen Dozieren, Präsentieren, Vorführen zu einer ansprechenden, zum Mitreden auffordernden, dialogischen Rede.
Die Grenzen monologischer Kommunikation
Am aufschlussreichsten ist es, mit dem Beispiel einer missglückten Rede anzufangen, mit einem zwar optimal gestalteten Vortrag, der aber sein Publikum nicht erreicht hat, weil es nicht gelang, den Monolog zu durchbrechen. Es handelt sich um eine der berühmtesten Reden aus der jüngeren deutschen Geschichte – die Ansprache des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger am 50. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938. Jenninger, der den Nationalsozialismus in aller Klarheit verurteilte, versuchte nachvollziehbar zu machen, worin dessen Faszination für die Deutschen bestanden hatte und was sie zum Mitmachen motiviert hatte. Die Rede empörte viele, die sie live anhörten, weil es schien, als ob Jenninger die Quellen, die er wiedergab, kritiklos akzeptierte.
Jenninger führte sehr ausführlich Texte aus den 1930er-Jahren an, unter anderem eine verstörend lange Passage aus einer Rede von Heinrich Himmler, seines Zeichens „Reichsführer SS“. Es waren Zitate, aber der Tonfall ließ eine Distanzierung nicht erkennen. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch ein Bild, das um die Welt ging und viele Missverständnisse provozierte: Man sah Jenninger am Rednerpult und daneben die Schauspielerin Ida Ehre, die soeben gesprochen hatte. Sie hatte den Kopf geneigt und hielt sich beide Hände vor das Gesicht. Man nahm das allgemein als Ausdruck ihres Entsetzens über den Inhalt der Rede. In Wirklichkeit war sie einfach erschöpft und, wie später klar wurde, in Gedanken gar nicht bei Jenningers Rede.
Viele, die im Publikum saßen und sich ohnehin als die besseren Antifaschisten verstanden, waren nicht in der Lage, Jenningers Bemühungen anzuerkennen. Und Jenninger selbst war es in diesem Rahmen einer Feierstunde nicht möglich, Signale aus dem Publikum wahrzunehmen und zu deuten. Heute wird die Rede, aus der Distanz und aufgrund ihrer schriftlichen Gestalt, durchweg anders beurteilt. An ihrer antifaschistischen Haltung wird nicht mehr gezweifelt, man hebt sogar die Differenziertheit ihrer Analyse hervor.65
Wenn man sich nur spielerisch vorstellt, dass bei einer solchen Veranstaltung das Publikum einbezogen werden könnte, dann hätten sich die Missverständnisse sofort geklärt. Man hätte zurückgefragt – „Meinst du das wirklich so?“ – und der Redner hätte die Chance gehabt, das Gemeinte zu wiederholen oder zu verdeutlichen. In jeder anderen, nichtöffentlichen Redesituation wäre es normal gewesen, Ida Ehre zu fragen: Wie geht es dir? In diesem Akt des symbolischen Gedenkens aber war ein solcher Einbezug menschlicher Reaktionen nicht vorgesehen.
Der Monolog als Symbol
Das Schicksal von Jenningers Rede ist ein drastisches Beispiel für das Dilemma, das mit jeder öffentlichen Redeveranstaltung verbunden ist: Man will zwar zum Diskurs beitragen, aber das Modell, das dafür zur Verfügung steht, ist die One-Man-Show. Einer spricht, die anderen hören zu und interpretieren, was sie hören, nach Gutdünken. Und bei einer Gedenkveranstaltung ist der Spielraum für eine andere Vorgehensweise minimal klein. Als Vorlesung vor einem Publikum, das mitdenkt und mitdiskutiert, wäre diese Rede wohl möglich gewesen. Dass sie sogar vorgetragen werden konnte, ohne Anstoß zu erregen, demonstrierte ein Jahr später Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er las mit wenigen Abstrichen denselben Text bei einer Veranstaltung in einer Frankfurter Synagoge. Das Resultat: „Keiner hat was gemerkt.“66
Dies hat aber wohl nur deshalb funktioniert, weil die Funktion der Rede nicht auf einen symbolischen Akt reduziert war. Es war eine Bereitschaft da, vorurteilsfrei zuzuhören. Je ritueller aber die Veranstaltung ist, desto stärker die Distanz zwischen Redner und Publikum desto ausgeprägter der monologische Charakter. In vielen anderen Fällen, außerhalb der Festrede, lässt sich der Monolog aufbrechen, lassen sich dialogische Elemente einbauen. Das Problem dabei ist nur, dass das symbolische Reden von vielen als Vorbild genommen wird und auch auf andere Redeweisen übergreift, bei denen die abgeschlossene Form und der Verzicht auf den Austausch mit dem Publikum eher nachteilig ist.
Reden, ohne zuzuhören
Ungeachtet des feierlichen Rahmens versuchten Abgeordnete die Rede mit Zwischenrufen zu stören. Dass dies nicht gelang, gehört auch zur Tragik des extremen Monologs. Jenninger selbst berichtet es so:
»Schon nach den ersten fünf Sätzen meiner Rede kam es im Bundestag zu Zwischenrufen der Grünen an mich: „Sie Altnazi! Wie kommen Sie dazu, darüber zu reden! Hören Sie auf,“ hat damals eine Abgeordnete der Grünen gerufen — andere haben ähnliche Beleidigungen von sich gegeben. Ich habe dann die Abgeordneten der Grünen aufgefordert, die Zwischenrufe einzustellen und die Würde dieser Gedenkstunde nicht zu stören. Aber sie hörten nicht darauf.«67
Zwischenrufe begannen schon zu Beginn, als Jenninger begründete, warum das Parlament der BRD eine eigene Gedenkveranstaltung abhielt. Deutlich zu verstehen war der Satz: „Aber das ist doch alles gelogen!“68
Was sollte der Redner tun? Er wusste in der Situation nur eine Lösung: an die Disziplin zu appellieren: „Bitte lassen Sie diese würdige Stunde in dieser Form ablaufen! Ich bitte Sie um Verständnis dafür, dass ich Sie herzlich bitte, jetzt äh sich ruhig zu verhalten.“69
Je monologischer die Rede, desto passiver ist die Rolle, die dem Publikum zugeschrieben wird. In der parlamentarischen Feierstunde sind keine Signale für Reaktionen aus dem Publikum vorgesehen, im Gegensatz zur parlamentarischen Verhandlung. Da sind Zwischenrufe zwar üblich, aber nicht als Diskussionsbeitrag, sondern als Signal an den Bürger, vor dem die Debatte zelebriert wird. Zwischenfragen werden nur nach strengen Regeln rituell durchexerziert. Problematisch ist, dass dieser Umgang mit Reden oft Vorbildcharakter hat. Man erwartet einen brillanten, ununterbrochenen Vortrag auch da, wo ein gemeinsamer Erkenntnisgewinn nützlich wäre, wo also ein Austausch nonverbaler oder verbaler Art beide Seiten weiterbrächte. Produktiv sind Veranstaltungen, bei denen z.B. eine Unterbrechung durch Fragen aus dem Publikum erwünscht ist und im besten Fall sogar einen fließenden Übergang zwischen Rede und Diskussion möglich macht.
Schriftliche Fixierung erschwert den Kontakt
Der Dialog wird häufig durch die schriftliche Ausarbeitung erschwert. Dies gilt vor allem, wenn Manuskriptreden Wort für Wort gelesen werden, damit die sprachlichen Feinheiten zur Geltung kommen. Dies erhöht den Schwierigkeitsgrad auf jeder Ebene: Beim Schreiben entstehen leicht längere, kompliziertere Sätze, die durch einmaliges Anhören schwerer zu verstehen sind. Zudem entsteht bei ungeschulten Sprechern oft ein einförmiger Vorleseton. Auf der nonverbalen Ebene ist beim Ablesen der Blickkontakt erschwert und die Gestik meist weiter eingeschränkt.
Jenningers Rede enthielt Passagen, die missverstanden werden konnten, weil sie