Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann

Konstruktive Rhetorik - Jürg Häusermann


Скачать книгу
es ist in vielen Fällen möglich, auf Kommunikationsweisen zu verzichten, die nur dem Machterhalt und nicht der Sache dienen, und alternative Formen der Auseinandersetzung zu finden.32 Hilfreich ist es dabei, die Funktion der einzelnen Rede nicht zu überschätzen, sondern sie als einen von vielen Kommunikationsprozessen in einem größeren Ganzen zu sehen. Nicht der Auftritt der Politikerin in der Gemeindeversammlung ist entscheidend, sondern die Gesamtheit der Arbeitsschritte, die ihm vorangegangen sind und folgen werden.

      5Reden entstehen geplant

      Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch hatte keine Probleme damit, seine Kollegen und Mitarbeiter im direkten Gespräch zu beeindrucken. Bevor er aber seine Vorlesung an der Universität Zürich hielt, war er so aufgeregt, dass er um das Hörsaalgebäude laufen musste, um sich zu beruhigen.33 Loriot, der Humorist, der jede Alltagssituation souverän karikieren konnte, entwickelte vor seinen Bühnenauftritten ein so starkes Lampenfieber, dass er gegen Ende seiner Laufbahn seinen guten Freund Otto Sander bat, für alle Fälle als Ersatz bereitzustehen.34 Es half weder Sauerbruch noch Loriot, zu wissen, dass ihre Zuhörenden sie fast bedingungslos akzeptierten, wenn sie am Rednerpult oder auf der Bühne standen. Dennoch nahmen sie die Schwelle zum öffentlichen Auftritt immer wieder auf drastische Weise wahr.

      Lampenfieber und Redeangst bestimmen viele Berichte über das öffentliche Reden. Wenig beachtet wird dabei die Tatsache, dass wir in den allermeisten Redesituationen frei von Lampenfieber sind: beim Reden im Gespräch von Gleich zu Gleich. „Im Gespräch mit ihm fühle ich mich wohl“, heißt es oft. Und in den meisten Fällen denkt man nicht einmal darüber nach. Klar, denn im Alltagsgespräch braucht man keine Sorge zu haben, ob das Gesagte „gut“ oder „korrekt“ formuliert ist. Die anderen werden nicht als Publikum verstanden, sondern als Gesprächspartner. Sie helfen bei Bedarf auch aus, vervollständigen einen Satz oder Gedanken und nehmen dadurch der Situation den Druck, den man allenfalls empfinden könnte. Es ist ein dialogisches Sprechen, ein Miteinander.

      Öffentliches Reden aber behindert Spontaneität. Reden entstehen unter dem Vorzeichen eines zu erreichenden Redeziels und sind deshalb immer zu einem gewissen Grad vorbereitet. Vier wichtige Aspekte, in denen sich die Redeproduktion vom nichtöffentlichen Gespräch unterscheidet, sollen hier behandelt werden:

      image der psychische Übergang vom Unauffälligen des Alltäglichen zum Exponierten der Ausnahmesituation, der sich in Lampenfieber äußert,

      image die geistige Vorbereitung, die notwendig ist, damit die Rede ein Publikum verdient,

      image der Einfluss früherer Texte auf die eigene Sprache und Redeweise,

      image die Ausrichtung der Rede auf ein einziges Ziel.

      Vom Nutzen des Lampenfiebers

      Fast alle berühmten Schauspielerinnen, Musiker, Akrobatinnen, Clowns – die meisten Menschen, die auf irgendeine Weise vor Publikum aufgetreten sind, können vom Lampenfieber erzählen. Genauso gilt es für Rednerinnen in unterschiedlichsten Situationen. Sogar Menschen, die die Angst zu einem gewissen Grad überwunden haben, beteuern, dass ein Respekt für die Aufgabe notwendig sei. Dass sich dieser auch in Nervosität ausdrückt, gilt als normal.

      Redeangst hat zwei Seiten. Zum einen bedeutet sie ein Hinfiebern auf die Konfrontation mit dem Publikum, also der Zustand vor der Rede. Zum anderen gibt es aber auch die Angst während der Rede. Die körperlichen Symptome – nervöses Zittern, kalte Hände, unkontrollierter Atem usw. – können weiter anhalten. In der Regel verschwinden sie aber in den ersten Minuten oder werden zumindest nicht mehr als bedrohlich empfunden. Die Furcht vor der Reaktion des Publikums, die Angst vor dem Versagen verschwindet nach einiger Zeit größtenteils.

      Dass es ein „Fieber“ ist, wie die deutsche Sprache suggeriert35, lässt es als akute Erkrankung, als Belastung auffassen – wie es ein alter psychologischer Aufsatz drastisch schildert:

      »Der Körper verspürt kalte Schauder in der Kreuzgegend. Er fühlt sich an, als ob ein Tausendfüßler sein Haar durchkämmte. Kalter Schweiß bricht aus und es fühlt sich an, als ob jemand in der Kniegegend die Muskeln durchtrennt hätte. Die Person würde am liebsten die Bühne so schnell wie möglich verlassen.«36

      Claudia Spahn, die eine große Menge an Lampenfieber-Literatur verarbeitet hat, unterscheidet vier Gruppen von Merkmalen des Lampenfiebers:

      image körperliche: schneller und flacher Atem, trockener Mund, kalte und schweißige Hände usw.

      image emotionale: Angst und Panik, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Scham usw.

      image kognitive: Konzentrationsstörungen, angstvolle Beschäftigung mit dem Publikum, Blackout usw.

      image das Verhalten betreffende: unkontrollierte Körperhaltungen und -bewegungen, stereotype Verhaltensweisen, sozialer Rückzug usw.37

      Solche Beobachtungen haben dazu geführt, dass der Zustand der Rednerin seit jeher mit demjenigen eines Menschen verglichen wird, der mit einer Gefahr konfrontiert ist. Dieser spannt seine Muskeln an und hält nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau – wie der Steinzeitmensch auf der Jagd nach dem Säbelzahntiger.38

      Der englische Terminus stage fright – also „Bühnen-Angst“ – unterstreicht deutlich den Zusammenhang des Lampenfiebers mit der Distanz zum Publikum.39 Die Angst vor der Bühne trennt Rednerin und Publikum deutlich voneinander und betont so die Erwartungen an ein perfektes Auftreten, an einen Monolog. Dies lässt aber auch erkennen: Wer in der Lage ist, frühzeitig dialogische Elemente in den Vortrag einzubauen, hat ein wirksames Mittel gegen die Redeangst in der Hand.

      Mark Twain berichtet, wie er den Monologcharakter bei seinem ersten öffentlichen Auftritt milderte, indem er eine Handvoll verlässlicher Freunde bat, sich im Publikum zu verteilen und auf lustige Stellen des Vortrags vernehmbar zu reagieren, so dass das Publikum einstimmte. Ein dialogisches Element war damit eingebaut, das den Redner mit Rückmeldungen sicherer machte.40

      Dass Lampenfieber entstehen kann, liegt im Übrigen an einer banalen Tatsache des öffentlichen Redens: es ist vorbereitetes – meist auch explizit angekündigtes – Reden. Angst wird entwickelt, weil die Zeit vorhanden ist, Angst aufzubauen. Dies weist aber auch auf einen erleichternden Aspekt hin: Wer vor anderen reden soll, hat Zeit, um sich vorzubereiten.

      imageLampenfieber nutzen

      In der Praxis geht es nicht darum, das Lampenfieber zu verlieren, sondern es zu nutzen, als Zeichen dafür, dass das Reden vor und mit dem Publikum eine dankbare Aufgabe und nicht eine lästige Pflicht wird. Claudia Spahn spricht denn auch nicht vom Bekämpfen, sondern vom Optimieren des Lampenfiebers.

      Ein


Скачать книгу