Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann
noch immer zur Fernbedienung: „Schönen guten Tag!“
Erst bei „Tag“ blickt der Dozent ins Publikum. Danach wird er sich vorstellen und dann wird die Vorlesung wirklich beginnen. Er wird zwar versuchen, seine Zuhörenden mit seinem Thema zu fesseln. Mit dieser kurzen Einleitung hat er aber weder für sie noch für sich selbst eine gute Vorlage geschaffen. Denn in diesen ersten zehn Sekunden hat er so viele Dinge getan, dass er sich und die anderen überfordert:
All dies ist in einer schwungvollen Bewegung von der Tür bis zum Dozentenpult erfolgt. Für die Veranstaltung stehen 45 Minuten zur Verfügung. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ein derart gehetzter Anfang ist nicht notwendig, und dennoch ist er typisch für diese Art Vortrag, gerade an Hochschulen und anderen Lehranstalten: Die Dozenten lassen sich keine Zeit. Sie spurten in den Hörsaal, fangen an, bevor sie richtig angekommen sind, und tun immer mehrere Dinge gleichzeitig. Damit überfordern sie sich und ihr Publikum. Und verpassen die besten Möglichkeiten, mit den Zuhörenden in Kontakt zu kommen.
Das ist kennzeichnend für den Umgang mit der Zeit in der öffentlichen Rede. Der Ausgangspunkt ist eine harmlose und selbstverständliche Rahmenbedingung des öffentlichen Redens: die Zeitabsprache. Wie geredet werden soll, ist vorgegeben, und es wird erwartet, dass die Person, die vorne steht, die vereinbarte Zeit auch einhält. Dies ist ein wichtiger Unterschied zum Alltagsgespräch. Dort ist ein flexibler zeitlicher Rahmen die Regel.14 Für öffentliche Debatten und Reden dagegen gibt es nicht nur feste Termine, sondern auch eingehende Absprachen darüber, wer wie lange reden darf. Diese Regelung wird fast in jedem Fall als Einschränkung verstanden, seien es die großzügigen 90 Minuten der universitären Vorlesung oder die fünf Minuten, die den Mitgliedern des Deutschen Bundestags für „Aussprachen zu Themen von allgemeinem aktuellen Interesse“15 zuerkannt werden. Es führt in vielen Fällen zu einer unnötigen Hast. „Fasse dich kurz!“ ist eine Maxime, die sich durch sehr viele Bereiche des Lebens zieht, und viele Redner orientieren sich sogar dann daran, wenn ihnen genügend Zeit gegeben ist.
Wesentlich ist dabei die Tendenz, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Wer sich dem Publikum vorstellen will und gleichzeitig seine Brille zurechtrückt, in sein Manuskript schaut und dabei sagt: „Mein Name ist …“, verpasst die Chance, Kontakt aufzunehmen, vom Publikum als Gesprächspartner wahrgenommen zu werden – und auch das Publikum selbst wahrzunehmen.
Reden heißt Zeit haben. Nicht dass man sich auf eine bestimmte Dauer geeinigt hat, sollte die Leitlinie sein, sondern dass man frei ist, sie mit so vielen oder so wenigen Dingen zu füllen, wie es sinnvoll ist – sinnvoll für die Konzentration des Redners, für die Aufnahmefähigkeit des Publikums und für ihre Interaktion.
3Der Veranstalter spielt mit
Man schreibt das Jahr 1687. An der Universität Leipzig warten die Studierenden gespannt auf die Vorlesung des Juristen und Philosophen Christian Thomasius. Er hat Unerhörtes angekündigt: Er wird deutsch dozieren, nicht mehr lateinisch, wie bis anhin gemeinhin üblich. Zum Skandal aber wird sein Auftritt noch aus anderen Gründen: Thomasius tritt nicht mehr in der Universitätsrobe auf, der langen Amtstracht, die die Professoren, ähnlich wie die Vertreter der Kirche und des Rechts, von der übrigen Bevölkerung unterscheidet. Statt des schwarzen Talars trägt Thomasius ein französisches Seidengewand, goldenen Schmuck und dazu eine passende Perücke.16 Er folgt damit der Mode der vornehmen Stände und setzt sich von den Vorgaben seiner Hochschule und seines Standes ab.
Thomasius zog damals Tadel auf sich – nicht nur von der Universität, sondern auch vom König und von der Kirche. Für ihn als Vorkämpfer der Aufklärung, der unter anderem gegen Vorurteile aller Art, insbesondere aber gegen Hexenprozesse ins Feld zog, war der Protest gegen alte Zöpfe ein wichtiges Symbol. Er war damals noch auf weiter Flur der Einzige, der sich auf diese Weise auflehnte. Das ist kennzeichnend dafür, wie stark der Einfluss der institutionellen Rahmenbedingungen auf das Verhalten von Rednern sein kann.
Vieles hat sich seither gewandelt. Aber noch immer brauchen Reden eine öffentliche oder private Einrichtung, die ihnen den Rahmen verleiht: die Schule, das Gericht, das Parlament usw. Diese Einrichtung ist der Veranstalter und schafft den Raum für die Rede. Sie sorgt für ein Publikum und setzt den Redner in Szene. Gleichzeitig gibt sie Regeln vor, die beim Reden einzuhalten sind. Sprache und Kleidung haben dabei meist weniger Gewicht als der Inhalt, auch wenn sie oft den Vorwand für ein Einschreiten des Veranstalters bieten.
Einfluss auf die Verbreitung
Eine Rede wird von drei Mitspielern bestritten. Nicht nur Redner und Publikum gehören dazu, sondern auch der Veranstalter. Dieser hatte schon in jedem Jahrhundert seine eigenen Möglichkeiten, auf eine Rede und ihre Wirkung Einfluss zu nehmen. Wie dies im 21. Jahrhundert geschehen kann, zeigt das Beispiel der weltumspannenden Vortragsfirma TED. Sie veranstaltet Bühnenprogramme mit Kurzvorträgen, die später im Internet Millionen von Klicks generieren. Die Teilnehmenden müssen sich aber an einen ganzen Katalog von Vorschriften halten. Damit bringt TED immer wieder Redner und Publikum gegen sich auf. So zum Beispiel im Jahr 2012, als im Center Theater im kalifornischen Long Beach der Unternehmer und Investor Nick Hanauer auftrat. Sein Vortragsstil fügte sich zwar nahtlos in die Reihe der TED-Vorträge ein. Dennoch führte er zu einer heftigen Kontroverse.
Hanauer