Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann
alt="image"/>Reden traditionell
Der erste Teil dieses Buchs macht die Herausforderungen des öffentlichen Redens erfahrbar. Im Mittelpunkt stehen die Faktoren, die die Kommunikation für Redner und Publikum erschweren:
Seit dem Jahr 2003 lädt die Universität Münster die Schulkinder der Stadt zu spektakulären Vorlesungen ein – etwa: Wie verklage ich meine Eltern auf Taschengeld? oder: Warum brennt ein Pups?3 Die Kinder verfolgen die Vorträge fasziniert. Sie schildern ihre Professoren als „schlau, aber nicht allwissend“, als „locker und lustig“.4 Dennoch sind sie nicht mit allem zufrieden. Was sie unter anderem stört, ist der Raum, in dem die Professoren zu ihnen reden. Es ist gewöhnlich der Hörsaal H1 am Münsteraner Schlossplatz, der 1.142 Sitzplätze umfasst. Pädagoginnen haben sie dazu befragt und herausgefunden: Die Kinder sind zwar von der Größe des Hörsaals beeindruckt, beklagen aber auch, dass es ihnen schwerfällt, sich aktiv zu beteiligen, und dass die Redner in dem Rahmen schlecht auf individuelle Bedürfnisse eingehen können.5
Abb. 1: Begegnung mit einem traditionellen Redner: Kinder-Uni im großen Hörsaal.
Zum einen genießen die Kinder, dass sie Vorträge besuchen können, die sonst Erwachsenen vorbehalten sind. Zum anderen legen sie auch sogleich den Finger auf den wunden Punkt: Zum ersten Mal mit einer öffentlichen Rede konfrontiert, erkennen sie, dass die Rahmenbedingungen die Kommunikation auch erschweren können. Der Einzelne verschwindet in der Masse, die Distanz zum Vortragenden ist größer als zum Lehrer in der Schule, und wenn sich jemand zu Wort meldet, verstehen ihn die anderen Zuhörenden nicht.
Die kritischen Reaktionen der Kinder sind also gar nicht überraschend. Interessant ist vielmehr, wie die Autorinnen der Studie, die selbst aus der Universität stammen, damit umgehen: Darauf, dass die Kinder bedauern, dass der Dialog erschwert ist, gehen sie gar nicht ein. Sie kommentieren es mit dem lapidaren Satz: „Dies steht aber bei der Organisationsform einer Vorlesung auch nicht im Vordergrund.“
Die Forscherinnen stammen selbst aus der Universität und sind seit ihrem Studium mit der herkömmlichen Form des wissenschaftlichen Vortrags vertraut. Diese ist für sie so selbstverständlich, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, das Feedback der Kinder ernst zu nehmen. Es könnte ja eine berechtigte Kritik sein – nicht an dem Stoff, der hier für sie aufbereitet wird, sondern an den Rahmenbedingungen. Vorträge vor großem Publikum sind gerade wegen ihrer monologischen Anordnung weniger erfolgreich als die Unterrichtsformen, die Kinden aus der Schule kennen und in denen der Dialog zentral ist. Sie macht den Dialog nicht unmöglich, aber sie erschwert ihn.
Wer erfolgreich vortragen will, muss die Rahmenbedingungen kennen, die über Jahrtausende hinweg das Reden in der Öffentlichkeit geprägt haben. Und dann geht es darum, ihnen etwas entgegenzusetzen. Die räumlichen Verhältnisse, die Zeitvorgaben, die Zielsetzungen des Veranstalters stehen einer ungezwungenen, fruchtbaren Kommunikation entgegen. Aber das ist nicht unüberwindbar. Es ist möglich, die prinzipiell monologische Situation in eine tendenziell dialogische zu verwandeln. Um dies zu erreichen, muss man aber die Ausgangslage kennen – die Vorgaben des öffentlichen Redens – und erkennen, dass sie Chancen zu einer unkonventionellen Kommunikation bieten.
1Eine neue Rolle, ein weiter Raum
Öffentlich zu reden, bedeutet, in einem größeren Raum zu reden. Dies ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass sich eine einzelne Person an eine Gruppe von Menschen wendet. Sie braucht deshalb einige Meter Abstand und die Zuhörenden brauchen alle ihren Platz. Oft werden diese Bedingungen noch verschärft: Eine Rednertribüne, ein Lehrerpult oder eine Bühne sorgt für die Sicht- und Hörbarkeit. Stühle, Bänke, Sitzreihen richten die Zuhörenden auf die wichtigste Person im Raum aus. Auch in informellen Situationen ist es weithin üblich, dass ein Redner sich vom Sitz erhebt und die Menschen, die ihn hören sollen, im Stehen anspricht, auch wenn diese selbst sitzen. Indem er aufsteht und einen besonderen Standort einnimmt, setzt er ein Zeichen. Er erhöht aber auch die Verständlichkeit und zeigt Respekt für die um ihn Versammelten. Wer sitzen bleibt, gilt schnell als unhöflich, auch wenn es als Zeichen der Bescheidenheit oder der Originalität gemeint ist.
In vielen Fällen sind für öffentliche Reden spezielle architektonische Räume geschaffen worden. In Parlamentsgebäuden, Gerichtssälen, Kirchen, oder Schulzimmern bestimmen starre architektonische Vorgaben, wo der Redner steht und wo die Zuhörenden sitzen: Es gibt das Podium, die Kanzel, das Katheder. Diese Wörter allein lassen an bestimmte Arten des Redens denken: Podiumsredner, Kanzelwort, Kathederweisheit etc.
Dass der Raum sich weitet, hat zu bestimmten Verhaltensformen geführt, insbesondere was die Körpersprache betrifft. Vieles, was Redner intuitiv tun – wie sie sich bewegen, wie sie dastehen, welche Gesten sie ausführen – sind durch die Distanz zum Publikum zu erklären, die zur traditionellen öffentlichen Rede gehört, auch wenn diese in vielen Fällen längst aufgehoben ist.
Honoré Daumier hat dies illustriert, als er Mitte des 19. Jahrhunderts Anwälte karikierte. Es war die französische Julimonarchie, eine Zeit der Skandale und sozialen Missstände. In der Serie Les gens de justice zeichnete er zwei Advokaten, die sich noch auf ihren Auftritt vorbereiten. Der eine ordnet seine Halsbinde, der andere schlüpft gerade in den Talar. Die Art ihres Gesprächs ist aus diesen privaten Handlungen, aus der Mimik, aber auch schon allein aus der Nähe der beiden Figuren erkenntlich. Sie werden gleich gegnerische Parteien vertreten; aber eigentlich sind sie Kumpel und vertrauen sich an, was sie wirklich von der Sache denken.
Abb. 2: Honoré Daumier: Zwei Anwälte vor ihrem Auftritt in kollegialem Gespräch.6
Ein anderes Bild zeigt die beiden in der Hitze des rhetorischen Gefechts. Dem plädierenden Anwalt ist anzusehen, dass er zu einem ganzen Saal spricht. Man ahnt die große Lautstärke, auch die Gestik ist für die