Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann
Kollegen spielt.
Abb. 3: Honoré Daumier: Der Anwalt beim Plädoyer.7
Dieser drastische Unterschied zwischen nichtöffentlicher und öffentlicher Rede gilt auch in vielen anderen Situationen – sogar bei einfachen Vorträgen. Der Redner ist exponiert und weiß um die Sichtbarkeit seines körperlichen Ausdrucks. Das verleitet die einen zu besonders deutlichen Gesten, andere hemmt es. In den meisten Fällen ist das Repertoire aber im Vergleich zur Alltagskommunikation reduziert, auf einige wenige Formen beschränkt.
Auch das Verhalten des Publikums wird durch die räumliche Einrichtung geleitet. Die Menschen werden auf eigens angeordnete Sitze verwiesen. Das gibt die Blickrichtung vor und fördert damit die Aufmerksamkeit. Es schränkt aber auch ihre Beweglichkeit ein. Zwischen anderen Zuhörenden eingepfercht, ist man zu einer ruhigen, wenn nicht gar starren Haltung gezwungen. In einem gewissen Sinn isoliert die räumliche Anordnung den Redner; sie verstärkt den Eindruck der Distanz zwischen ihm und dem Publikum.
Die Raumverhältnisse beim öffentlichen Reden beeinflussen auch die akustische Gestaltung. In hohen und weiten Räumen entsteht ein starker Hall – ein Effekt, der beim nichtöffentlichen Gespräch in kurzer Distanz kaum eine Rolle spielt. Wer dagegen im Freien redet, spürt, dass der Nachhall fast völlig fehlt und sich die Stimme leicht verflüchtigt. In beiden Fällen ist die sprecherische Kommunikation grundsätzlich erschwert. Deshalb hat sich eine redetypische Sprechweise entwickelt; Menschen klingen anders, sobald sie „öffentlich“ werden. Da lauter gesprochen werden muss, sind längere Pausen zwischen Satzteilen oder gar Wörtern erforderlich. Dies führt meistens zu einer gleichförmigen Betonung. Und auch wenn heutzutage Mikrofone und Verstärkeranlagen eingesetzt werden, ist diese typische Festredner-Sprechweise noch immer nicht ausgerottet.
Deshalb ist sie auch in weniger offiziellen Situationen erkennbar, sobald jemand die Ebene des nichtöffentlichen Redens verlässt und gleichsam symbolisch den Raum weitet. Körperhaltung und Sprechweise zeigen dies ebenso wie ein Rückgriff auf ein respektableres Vokabular.
Ich kauere mit meinem kleinen Sohn im Sandhaufen und wir sprechen unsere vertraute Familiensprache. Rings um uns und mit uns spielen andere Kinder. Da tut Andreas etwas, das meinen Erziehungsprinzipien widerspricht und ein kurzes erzieherisches Gespräch erfordert. Aber ich weiß: Wir stehen unter der Beobachtung aufmerksamer schwäbischer Mütter und Väter. Also richte ich mich auf, erhebe meine Stimme und weise ihn zurecht. Ich werde für alle, die in der Nähe sind, hörbar und ich verwende einige festgefügte Wendungen, die die Gesellschaft für solche Fälle entwickelt hat. „Das tut man nicht!“ – „Reiß dich zusammen!“ – „Wird's bald?“8
Dass ich mich aufrichte, lauter rede und solche festen Redewendungen gebrauche, zeigt: Ich rede im Bewusstsein, dass andere Leute zuhören. Ich rede so, als ob das Gespräch von diesen Zuhörenden kontrolliert würde. Die Redesituation wird etwas geöffnet; die Redeabsicht verändert sich, die Rede scheint an Wichtigkeit zu gewinnen. Öffentlichkeit im soziologischen Sinne wird da zwar nicht hergestellt.9 Für die praktische Rhetorik aber ist das Bild eines konkreten Raums hilfreich, in dem sich die Distanzen zwischen den Beteiligten vergrößern, sobald einer von ihnen die Rolle des Redners annimmt. Unsere Kommunikation wird für andere zugänglich – ein erster Grad des Veröffentlichens. Und generell wird damit gerechnet, dass die Inhalte der Rede weitergetragen werden und über das anwesende Publikum hinaus wirken. Dies gilt für die Kinder-Uni ebenso wie für die Vereinsversammlung. Die Anwesenden werden das Gehörte weiterverbreiten, in der Familie, in anderen sozialen Gruppen. Deshalb werden die Redner in ihrem Verhalten dadurch bestimmt, dass mehr Resonanz möglich ist als im Alltagsgespräch.
Rhetorik ist die Lehre vom öffentlichen Reden in diesem Sinne: vom Reden, wenn der Raum sich weitet und die Rollen in Redner und Publikum aufgeteilt sind. Man sieht und hört es einem Menschen an, wenn er seine private Redeweise verlässt und – je nach Typ – doziert oder referiert oder predigt. Er begibt sich auf Distanz, nimmt eine neue Rolle an und verhält sich nach anderen Normen.
2Die Zeit ist begrenzt
David Alexander Day war ein amerikanischer Missionar, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Westafrika tätig war. In einer Missionsstation in Liberia predigte er nicht nur, sondern studierte auch die Sprache und Redepraktiken der afrikanischen Bevölkerung. Auch wenn er sie als uncivilized people betrachtete, war er beeindruckt vom Reichtum ihrer Sprache und ihrer Erzählungen. Er notierte seine Beobachtungen für Zeitschriften in der Heimat, zum Beispiel die folgende über einen Brauch, den er als One-Leg-Talk übersetzte:
»Wenn die Zeit knapp ist, wird der Redner oft angehalten, auf einem Bein zu stehen, und er hat nur so lange das Wort, als er in der Haltung bleiben kann.«10
Day kommentiert dies scherzhaft, indem er sagt:
»Die Zuhörer und Gemeinden in der Heimat könnten dies als Hinweis nehmen und diese Regel auf langatmige Redner anwenden. Die Idee ist nicht patentiert, aber ich erwarte, dass alle Gemeinden, die sie umsetzen, uns als kleines Dankeschön eine Schachtel mit Kleidern schicken.«
Das amerikanische Publikum hat diesen Bericht dankbar aufgenommen, und es kommt heute noch vor, dass in launigen Reden oder auch in gedruckten Ratgebern darauf angespielt wird, unabhängig davon, wie gesichert diese Behauptung ist.11 Die öffentliche Rede wird als ein Spiel verstanden, in dem das Publikum dem Redner Zeit und Aufmerksamkeit leihen, aber auch entziehen kann. Viel stärker als in privaten Situationen wird vom Redner ein adäquates Zeitmanagement erwartet. In der Regel gibt es Absprachen über die Rededauer. Dennoch verhalten sich viele so, als ob sie unter Zeitdruck stünden. Sie nehmen ohne Not eine gehetzte Sprech- und Präsentationsweise an, als ob sie Angst hätten, gleich unterbrochen zu werden.
Da ist der Mediziner, der zum Thema „Psychiatrische Störungen“ reden soll. Die Studierenden sind schon da, sie warten in einem großen Hörsaal mit nach hinten ansteigenden Sitzreihen. Die ersten Sitzreihen haben sie typischerweise leer gelassen. Der Dozent ist noch nicht zu sehen. Sie blicken auf eine weiße Leinwand, die hinter dem Lehrerpult aufgespannt ist. Einige Minuten nach der vereinbarten Zeit eilt der Dozent mit weit ausholenden Schritten durch den Raum auf das Pult zu.12 Als er die Mitte des Raums erreicht, spricht er, ohne anzuhalten, den ersten Satz: „So!“
Da er noch mitten im Lauf ist, sagt er es geradeaus, mit Blick in Richtung Seitenwand. Beim nächsten Schritt sagt er: „Etwas zu spät!“ Bei „spät“ wendet er den Kopf kurz nach links, wo die Studierenden sitzen, allerdings ohne abzubremsen. Er braucht drei weitere Schritte, um sich von einem Tablar eine Fernbedienung zu greifen. Mit dieser dreht er sich um, sagt „äh“ und macht drei kurze Schritte zurück. Dabei studiert er kurz die Fernbedienung