Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann

Konstruktive Rhetorik - Jürg Häusermann


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verfügbare Raum mit fast achthundert Personen gefüllt war, herrschte in diesem eine Ruhe, wenn auch eine angespannte, als der Gelehrte den Vortragssaal betrat …«51

      Alexander von Humboldts „Cosmos-Vorträge“ waren im Wintersemester 1827/28 ein Publikumsmagnet und die Berichte, die wir von Zuhörenden haben, zeugen von der Autorität des Gelehrten. Der Hinweis auf die „angespannte Ruhe“ zeigt, dass die öffentliche Rede nicht nur Rednerinnen und Rednern, sondern auch denjenigen, die zuhören, besonderes Verhalten abverlangt. Sie richten sich auf die Rolle des zu belehrenden und zu unterhaltenden Publikums ein und machen damit den Schritt von der nichtöffentlichen zur öffentlichen Situation ebenso mit wie der Redner selbst.

      Wer alles zum Publikum zählt, wird wiederum von Rahmenbedingungen bestimmt, die Gesellschaft und Institutionen vorgeben. Humboldt hielt seinen Vortrag bewusst in der Sing-Akademie und nicht an der Universität. An dieser wäre er nur von Studierenden und Kollegen gehört worden, und nur von Männern. Frauen wurde der Zugang zu preußischen Universitäten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich geöffnet. Humboldt verlangte für seine Vorträge keine Eintrittsgebühr und so kamen Zuhörende „aus den unterschiedlichsten Schichten – von Mitgliedern der königlichen Familie bis zu Kutschern, von Studierenden bis zu Dienstboten, von Gelehrten bis zu Maurern – und die Hälfte waren Frauen.“52

      So beteiligt sich das Publikum

      Die klassische Anordnung von Bühne und Zuschauerraum sieht für das Publikum eine passive Rolle vor: Zuhören. Dennoch ist es aktiver, sogar im Extremfall einer derartigen Großveranstaltung. Auch wenn keiner ein Wort sagt, sind die verschiedensten Aktivitäten möglich: geistige wie Mitdenken und Mitschreiben, nonverbale wie Lächeln, Stirnrunzeln, Kopfnicken, paraverbale wie Raunen oder Lachen. Die Anwesenden sind aber auch Multiplikatoren. Sie sind der erste Kreis in einer Reihe von Öffentlichkeiten, die um die Veranstaltung herum entstehen. Die Wirkung der Rede wird weiter vermittelt zu Gesprächspartnern außerhalb des ursprünglichen Publikums und gegebenenfalls in weitere Medien. Bei Alexander von Humboldt waren dies Berichte von Besuchern in Briefen, Zeitungsartikeln und Büchern.53 Im 21. Jahrhundert sorgen soziale Medien und je nach Art der Veranstaltung die üblichen Massenmedien für Resonanz.

      Die Vorstellung, dass die Zuhörenden stumm und ohne eigenen gedanklichen Beitrag einem Vortrag folgen, ist in jedem Fall falsch, auch wenn es in Rhetoriktrainings geradezu sprichwörtlich geworden ist, die Rednerin als die darzustellen, die die Zuhörenden „führt“.54 Die Zuhörenden sind immer aktiv – vorausgesetzt sie stehen noch mit der Rednerin in Kontakt. Die Aufgabe einer dialogischen Rhetorik ist es, diesen Kontakt zu sichern und auszubauen.

      Wie sie zuhören: rational, emotional, kreativ, orientierend

      Von David Malan wurde erwartet, dass er eine stinknormale Einführung in die Informatik hielt. Der Kurs im B.A.-Programm der Harvard University war nicht besonders beliebt. Etwa 130 Studierende hatten sich jeweils eingeschrieben; 25 von ihnen hatten daraufhin Informatik als Hauptfach gewählt. Der Rest war für immer abgeschreckt. Malan wollte das ändern. Er tat zwar genau, was man von ihm erwartet hatte: Er führte in die Grundlagen und die Denkweise des Computers ein. Aber er tat es auf eine völlig andere Weise als seine Vorgänger, und wenige Jahre später schrieben sich 700 Studierende ein, und immerhin 50 wählten Informatik als Hauptfach.55

      Ein Grund für den Erfolg dieses Dozenten war, dass er die Aktivität der Zuhörenden richtig einschätzte. Während sich die meisten Menschen, die über ihr Fach vortragen, auf Sachinformationen konzentrieren, wurde hier das Publikum auf mehreren Aktivierungsebenen angesprochen: nicht nur auf der Informationsebene, sondern auch auf der emotionalen, kreativen und orientierenden Ebene.

      Über Emotionen motivieren

      Malan beginnt seine Einführung in Computational Mathematics (in Harvard CS 50 genannt) weder mit einer Definition noch mit einem Überblick über die Thematik, sondern mit einer Selbstoffenbarung:

      »Hallo! Mein Name ist David Malan, und das ist CS 50. Ich liebe diesen Kurs über alles. Für mich ist das mein Traumjob, ehrlich gesagt …«56

      Er steht vor 400 Studierenden verschiedenster Fächer, die nicht genau wissen, was sie in Informatik erwartet, und er sagt ihnen zuallererst, wie sehr er das Fach liebt. Er erzählt, wie er dazu gekommen ist, es zu studieren, dass er – ebenso wie wohl viele im Hörsaal – eher Angst davor gehabt hat und wie er herausgefunden hat, dass es mit vielen seiner Interessen zusammenhängt.

      Malan will die Studierenden mitreißen, sein Ziel ist zunächst, dass seine Begeisterung überspringt. Neben dieser emotionalen Aktivierung tritt die strukturierte Vermittlung von Inhalten in den Hintergrund. Als er das Fach vorstellen muss, tut er dies zuerst über Geschichten, die dessen Anwendung illustrieren. Er erzählt: Als Studierender fand er es umständlich, die nächste Busverbindung herauszufinden, die ihn vom Campus nach Hause brachte. Er nutzte die digitalisierten Fahrpläne, um einen Dienst zu entwickeln, der ihm per SMS die gewünschten Abfahrten und Anschlüsse übermittelte – lange bevor es Smartphones und dazu passende Apps gab. Zwar lassen sich über das Erzählen nur einzelne Beispiele vermitteln; Verallgemeinerungen brauchen abstraktere Formen. Aber die Geschichten vermitteln seine Gefühle und motivieren zum weiteren Zuhören, auch wenn es komplexer wird.

      Die Kreativität der Zuhörenden ansprechen

      Gibt es eine Methode, um auf rationelle Art zu ermitteln, wie viele Personen im großen Vorlesungssaal versammelt sind? – Eine einfache Frage, die zunächst die Kreativität der Studierenden anregen soll. Mehrere melden sich zu Wort und schlagen mögliche Arten des Zählens oder Schätzens vor. Dann aber schlägt der Dozent eine eigene Methode vor, die das Denken der Informatik erfahrbar macht. Sie besteht darin, dass die Studierenden Zweiergruppen bilden. Einer der beiden setzt sich, der andere bleibt stehen. Derjenige, der noch steht, repräsentiert jetzt zwei Personen. Wieder bilden je zwei der noch Stehenden eine Gruppe; einer setzt sich, der andere repräsentiert jetzt vier Personen. So geht es weiter. Wenn die Letzten, die noch stehen, ihre Summen addieren, ist die Gesamtzahl ermittelt.

      Es ist ein munteres Treiben, bei dem sich alle körperlich betätigen und dabei erfahren, was binäres Verarbeiten von Informationen bedeutet.

      Zum Mitdenken anregen

      Zu jeder Rede gehören auch Informationen, die rationales Denken erfordern. Dazu gehören begründende, verallgemeinernde, zusammenfassende Aussagen, die sich auf einer abstrakteren Ebene als die praktischen Beispiele bewegen. Die Frage ist, wann man sie platzieren soll. Dazu gehören Behauptungen wie: „Informatik macht euch offen für die Möglichkeiten, Probleme effektiver zu lösen.“

      Wäre der Dozent damit eingestiegen, vor den praktischen Aufgaben und Beispielen, hätte er nur ein schwaches Interesse geweckt. Aber nachdem Emotionen und Kreativität aktiviert wurden, fallen auch die rationalen Aussagen auf fruchtbaren Boden.

      Orientierung schaffen

      Zu diesen Appellen an die emotionale, die kreative und die rationale Beteiligung gesellt sich eine weitere Ebene, die orientierende. Dazu gehört Überblick über die Organisation der gesamten Veranstaltung ebenso wie die Orientierung innerhalb des Vortrags: Wo sind wir? Was wird als nächstes kommen? Wie ist die aktuelle Aussage mit den übrigen verknüpft? Es wird eine Struktur für die aktuelle Vorlesung skizziert, und die Studierenden bekommen auch eine erste Idee für die folgenden Wochen. Die orientierende Ebene enthält also mehrere Dimensionen: zum einen Klärungen über den Aufbau und die Gliederung bis hin zum verwendeten Vokabular,


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