Sophienlust Extra 8 – Familienroman. Laura Martens
er fort, dass wir Mirja von unserer Liebe überzeugen müssen.«
»Du vergisst, dass du nur Mirjas Mutter lieben sollst«, erwiderte Jutta matt. »Deine Tochter ist noch zu jung, um begreifen zu können, dass du ein Recht auf ein eigenes Leben hast. Sie meint, es würde genügen, wenn du mit ihr beisammen bist. Später, wenn sie einmal selbst verliebt ist, wird sie dich besser verstehen können. Was aber dann bis dahin noch alles geschehen kann!«
»Wie meinst du das?« Richard hob Juttas Gesicht zu sich empor und betrachtete es ernst.
Die junge Frau löste sich von ihm und trat einige Schritte zurück, den Kopf tief geneigt. »So kann es doch nicht mehr weitergehen. Mirja soll nicht in einem Heim bleiben. Sie gehört hierher zu dir. Verzeih, Richard, aber ich kann auf die Dauer nicht mit dir glücklich sein, wenn Mirja gleichzeitig unglücklich ist. Bitte, fahre nach Sophienlust und sprich noch einmal mit Frau von Schoenecker. Vielleicht weiß sie einen Rat.«
So kam es, dass Richard Walberg ganz unverhofft vor seiner Tochter stand. Wie so oft, saß sie auf einer Bank im Park, abgesondert von den anderen. Eigentlich hätte sie im Moment Schulaufgaben machen sollen, doch sie hatte dazu keine Lust gehabt. Wozu lernen? Alles war ihr so gleichgültig geworden. Mirja wusste, dass die anderen Mädchen eifrige Schülerinnen waren. Hauptsächlich Pünktchen tat sich in der Klasse mit den besten Leistungen hervor. Doch Pünktchen war das einzige Mädchen, das ihr aus dem Weg ging.
Sie mag es nicht, dass Dominik sich um mich bemüht, überlegte Mirja. Noch nie hat sie mit mir so lustig gesprochen wie mit den anderen.
Mirja blähte die Wangen auf und stieß den Atem aus, als sei ihr plötzlich sehr heiß geworden. Seit Dominik ihr zuhörte und ihr die Meinung sagte, dachte sie über vieles nach. Zum Beispiel auch darüber, ob ihre Verhaltensweise der Stiefmutter gegenüber vielleicht genauso verkehrt war wie Pünktchens eifersüchtige Haltung ihr gegenüber. Dominik hatte ihr doch erklärt, dass ihr Vater sie trotz seiner zweiten Frau genauso liebhaben würde wie zuvor und dass sie das nur nicht merke, weil sie sich in ihren Hass gegen die neue Frau des Vaters verbohrt hatte. Hatte Dominik vielleicht doch recht, wenn er sagte, dass sie nur sich selbst schade, wenn sie weiter so unzugänglich bleibe?
Dann aber, als ihr Vater plötzlich vor ihr stand, krampfte sich Mirjas Herz wieder in Abwehr zusammen. Trotzig sagte sie: »Was willst du hier? Ich will dich nicht sehen!«
»Aber Mirja!« Richard Walberg gab seiner Tochter einen zarten Kuss auf die Wange und musterte sie in väterlicher Liebe. »Ich dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen.« Er setzte sich neben sie und warf einen Blick in den weitläufigen Park. »Es ist sehr schön hier. Du bleibst trotzdem lieber allein? Warum spielst du nicht mit den anderen?«
Mirja antwortete nicht. Sie sah mürrisch vor sich hin.
Richard Walberg fragte behutsam: »Willst du mit mir nach Hause kommen? Ich vermisse dich sehr. Ich dachte, wenn du ein Weilchen fort bist, würdest du einsehen, wie schön es auf Hoheneichen ist, auch wenn Jutta nun bei uns lebt. Wir könnten uns alle drei gut vertragen, wenn du nur ein wenig nachgeben würdest.«
»Ich will nicht nach Hause!« stieß Mirja unwillig hervor. »Ich werde hierbleiben. Auf Sophienlust sind viele Kinder, die keine Eltern mehr haben und sich hier ganz daheim fühlen. Mit der Zeit werde ich mich an alle gewöhnen. Ich muss nur lernen, Hoheneichen aus meinem Gedächtnis zu streichen.«
»Sieh mal«, sagte Richard, ohne auf ihre Worte einzugehen, »was ich dir mitgebracht habe.«
Mirja warf einen scheelen Blick auf das große Farbfoto, das der Vater ihr reichte. Dann aber konnte sie nicht anders, als es entzückt zu betrachten. »Wie süß!«, rief sie hell. »Wie reizend sehen Nike und Binka aus. Du kannst wirklich fabelhaft fotografieren, Vati!«
»Na, und von dir sagst du gar nichts?«, lächelte Richard. »Du siehst doch bezaubernd aus, Mirja. Als ich dich auf dem Foto sah, hab' ich so sehr Sehnsucht nach dir bekommen, dass ich einfach losfuhr, auch auf die Gefahr hin, dass du mich gar nicht sehen wolltest.«
Mirja strich sich verlegen über das Haar. Sie freute sich mächtig, dass ihr Vati da war. Der Anblick der beiden Hunde auf dem Foto machte sie ganz elend vor Sehnsucht nach Hoheneichen. Als sie die beiden Hundebabys geschenkt bekommen hatte, war von dieser Jutta noch nicht einmal die Rede gewesen. Ihr Vati hatte nur sie allein verwöhnt.
»Wie geht es Nike und Binka?«, erkundigte sie sich leise. »Kommen sie bald wieder nach Hause?«
Richard erwiderte lebhaft: »Ich habe sie auf der Fahrt zu dir kurz besucht. Die Dressur ist in vierzehn Tagen beendet. Dann hole ich die beiden nach Hause. Willst du sie nicht empfangen, wenn sie als dressierte Jagdhunde zurückkommen? Es sind doch deine Hunde. Du könntest ja auch nur zu Besuch kommen, wenn du lieber auf Sophienlust bleiben möchtest.«
»Ja …«, meinte Mirja zögernd, »vielleicht. Ich könnte Nike und Binka ja mitnehmen. Hier sind viele Tiere, die Kindern gehören. Auf Jagd kann man hier auch gehen. Gut Schoeneich, auf dem die Schoeneckers leben, ist sehr groß. Viel größer als unser Hoheneichen, Vati. Aber da gibt es auch viel mehr Arbeit. Ich finde, Hoheneichen ist gerade recht. Es ist wunderschön … Ich meine …« Mirja brach ab und biss sich auf die Lippen.
Richard Walberg sagte rasch: »Es ist doch herrlich, dass du ein so schönes Zuhause hast und dich nur in den Zug zu setzen brauchst, um hinzukommen. Viele Kinder hier haben keine Heimat und keine Eltern. Du bist reicher als die Halb- und Vollwaisen von Sophienlust. Dafür solltest du dankbar sein. Jutta will dir bestimmt nichts wegnehmen, Mirja. Weder meine Vaterliebe noch Hoheneichen. Du würdest mich unendlich glücklich machen, wenn du heimkehren und mit uns leben würdest. Denke ein wenig darüber nach, wenn ich wieder fort bin. Du braucht mich nur anzurufen. Dann hole ich dich ab. Oder willst du jetzt gleich mit mir heimfahren?«
»Du darfst nicht klein beigeben!«, hörte Mirja da die Stimme ihrer Tante im Ohr. »Denke immer daran, dass man deine tote Mutter verraten hat!«
So schüttelte sie trotzig den Kopf und antwortete: »Du hast Mami vergessen. Ich werde nur kommen, um Nike und Binka zu holen. Die beiden werden nur mich liebhaben. Es sind treue Tiere.«
*
Es tat Richard Walberg sehr leid, seiner Frau keine erfreuliche Nachricht mitbringen zu können. Nur das Gespräch mit Denise von Schoenecker hatte eine beruhigende Ausstrahlung auf ihn gehabt.
»In so kurzer Zeit«, meinte er nun zu Jutta, »kann Mirja ihre Einstellung nicht ändern. Frau von Schoenecker ist der Ansicht, dass ihr Sohn Dominik einen guten Einfluss auf Mirja hat. Sie spricht mit ihm über ihre Probleme. Das sei schon viel wert, meinte Frau von Schoenecker.«
Jutta war enttäuscht. Eigentlich wusste sie selbst nicht, was sie sich erhofft hatte, denn es hatte keinen Sinn, sich etwas vormachen zu wollen. Mirja war in ihrer Abneigung sehr beharrlich. Doch da Jutta von Sophienlust wahre Wunderdinge gehört hatte, war sie der Überzeugung gewesen, Mirja würde rasch zur Vernunft kommen. Richards zärtliche Liebe hüllte sie zwar in einen Mantel des Glücks, doch wenn er außer Haus war, überfielen sie stets düstere Gedanken. Sie wollte nicht in den Geruch kommen, die Tochter aus erster Ehe hinausgedrängt zu haben. Blind vor Liebe war sie diese Ehe eingegangen. Nun waren Wolken über dem Himmel des Glücks aufgezogen, und manches sah anders aus als während ihrer kurzen Brautzeit. Noch hatte Jutta die abfälligen Worte von Richards Schwägerin nicht überwunden. Bald werden mehr Leute so sprechen, dachte sie.
Jutta kam es vor, als würde auch schon die Elevin Katja merkwürdige Augen machen. Das Mädchen absolvierte auf Hoheneichen ihr praktisches Lehrjahr und war bisher sehr aufgeschlossen und zutraulich gewesen. In letzter Zeit schien Katja sich jedoch geändert zu haben. Sie war ausgesprochen zurückhaltend, und manchmal wich sie ihr auch aus, wenn sie sie kommen sah.
Juttas Leben war bis zu ihrer Hochzeit stets offen und ohne Probleme gewesen. Deshalb wurde sie jetzt ganz einfach nicht mit Mirjas Verhalten und den damit verbundenen Auswirkungen fertig. Auf dem Staatsgut Hamm war sie überall beliebt gewesen. Auf Hoheneichen aber war es ihr, als tuschle man über sie und halte sie für eine berechnende Person, die sich ohne Rücksicht auf Verluste den angesehenen Gutsbesitzer Richard Walberg geangelt