Kinderärztin Dr. Martens Classic 6 – Arztroman. Britta Frey

Kinderärztin Dr. Martens Classic 6 – Arztroman - Britta Frey


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zusammen und griff nach dem Leinenbeutel.

      Der Kirchturm und die ihn im kleinen Kreis umstehenden Häuser mit den roten Dächern kamen nur langsam näher, und als sie schließlich doch an der weißen Gartenpforte ihres Hauses lehnte, hielt sie sich erst einmal aufatmend fest, während ihre Augen das Kind bereits im Garten suchten.

      Aber alles war beängstigend still, und voller Beklemmung trat sie den Rundgang an, der sie schließlich ratlos an die Pforte zurückkehren ließ.

      Der winkende Gruß ihrer Nachbarin traf sie wie ein Rettungsanker, und sie lief auf die junge Frau zu.

      »Guten Tag, Frau Honert!« rief Gerda Brennecke und kam an den Zaun. »Sie waren spazieren?«

      Else Honert nickte, und ihre Stimme klang aufgeregt, als sie sofort fragte: »Haben Sie Daniel gesehen? Wir waren zusammen in der Heide, und ich bin auf der Decke eingeschlafen. Als ich erwachte, war er spurlos verschwunden…«

      »Zurückgekommen ist er nicht, ich war im Garten und hätte ihn sehen müssen, Frau Honert.« Gerda Brennecke legte die Harke aus der Hand und kam nun auf den Weg hinaus. »Vielleicht hat er sich verlaufen!«

      »O Gott!« stammelte Else Honert und tastete nach dem Zaun.

      »Können Sie mir den Platz beschreiben, wo Sie Ihr Picknick abgehalten haben? Ich laufe rasch noch mal hinaus…«, bot Gerda Brennecke an.

      »Nein, nein, ich komme mit!«

      »Werden Sie es schaffen?« Die junge Frau hatte so ihre Bedenken, wenn sie die alte Dame anschaute.

      »Ja, sicher, wenn ich mich nur ein wenig einhängen darf?« Sie sah Gerda Brennecke an. »Es wird ihm doch nichts passiert sein?«

      »Aber, Frau Honert, was soll ihm in unserer gutmütigen Heide schon geschehen?« lachte die junge Frau, während sie bereits wieder den Weg entlangschritten, den die alte Dame gerade hinter sich gebracht hatte.

      Else Honert beruhigte sich ein wenig und ging am Arm Gerda Brenneckes mit neuem Halt und neuer Zuversicht, um den Enkel zu finden. Die junge Frau in ihrer gesunden bodenständigen Art bewirkte das.

      Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, als sie schließlich die Birke erreichten, deren Zweige ihnen in der etwas bewegten Luft einen täuschend beschwingten Gruß entgegenschickten.

      Aber der Platz unter der Birke war leer, so leer wie die weite stille Landschaft, bevor Gerda Brennecke mit ihrer kräftigen Stimme diese Stille durchbrach, indem sie laut den Namen des Jungen rief, wieder und wieder – aber ohne jeden Erfolg.

      Die junge Frau bemühte sich, auch weiterhin ein sorgloses Gesicht aufzusetzen, spürte aber die Unruhe nun auch in sich wachsen, als würde das schwindende Tageslicht die Schatten des Zweifels verstärken.

      »Kommen Sie, Frau Honert, gehen wir zurück. Mein Mann ist bei der Ortsfeuerwehr. Er soll die Männer zusammenrufen, damit sie noch vor Beginn der Dunkelheit eine Suchaktion starten!«

      Else Honert war am Ende ihrer Kraft. Sie legte die Hand auf ihr Herz und flüsterte: »Und Sie meinen, die Männer würden das für mich tun?«

      »Natürlich – sie müssen es sogar!« Gerda Brennecke legte ihren Arm um die schmalen Schultern der verzweifelten alten Dame. »Sie werden sehen, wie schnell die Leute Ihren Kleinen finden werden…«

      Else Honert wollte das glauben und hatte doch Mühe, ihre Angst, die ihr wie ein Stein auf der Brust lag, zu bezwingen. Und während nun Gerda Brennecke ihr vorauseilte, um die Hilfe zu mobilisieren, blickte sie ratlos über diese Landschaft, die immer noch so friedlich aussah, obwohl nun die Angst den Zweifel nährte.

      Wenig später sah sie die Suchmannschaft der Feuerwehr ausrücken. Der rote Wagen leuchtete weit – und all das sah beunruhigend und gefährlich aus.

      »Daniel«, murmelte sie, während Gerda Brennecke ihr entgegenkam und sie nach Hause brachte.

      Das letzte Tageslicht wich, und die Dämmerung reichte der Dunkelheit die Hand, während Else Honert Stunde um Stunde am Fenster ausharrte.

      Gerda Brennecke ging immer mal fort, und wenn sie zurückkam, so hatte ihr Gesicht von Mal zu Mal mehr Mühe, ihre Zuversicht aufrecht zu erhalten. Die frohe Unbekümmertheit war einer gewissen Ratlosigkeit gewichen.

      »Sie sitzen ja im Dunkeln, das ist nicht gut!« sagte sie und nahm dann die Hände der alten Dame, während sie daran dachte, daß die Suchmannschaften die nähere Heide kreuz und quer durchkämmt hatten, ohne den geringsten Hinweis über den Verbleib des Kindes gefunden zu haben. Der Kleine war so verschwunden, als hätte die Erde sich aufgetan und ihn verschluckt.

      Natürlich hatte man auch das großräumige Abbaugebiet der Sandgrube abgesucht, von oben so offen wie ein übersichtliches Tal, aber kein suchender Blick wanderte unter den Bagger, in dessen dunklem Schatten das hilflose Kind lag.

      »Sie haben Suchhunde angefordert«, sagte Gerda Brennecke später in die tiefe Stille des Hauses hinein und erhob sich dann, um an das Fenster zu treten. Sie sah in der Ferne die Lampen gleich tanzenden Lichtern über die Heide geistern.

      »Ich habe versagt«, murmelte Else Honert, und die Verzweiflung erstickte jedes weitere Wort.

      Gerda Brennecke wandte sich ihr zu.

      »Nein, Frau Honert, ich habe auch Kinder und weiß, daß man sie nicht jede Sekunde im Auge behalten kann.« Sie kam zurück und beugte sich mitfühlend über die nette alte Dame.

      »Sie sollten sich wirklich ein wenig hinlegen. Ich könnte Ihnen ein Beruhigungsmittel holen.«

      Else Honert schüttelte den Kopf und legte dann das starre Gesicht in die Hände, während die Zeit verrann, die Minuten, kaum noch Hoffnung, nur noch Angst.

      Die Lichter geisterten die ganze Nacht über die Heide, und ihr Licht vermischte sich schließlich mit dem ersten grauen Morgenstreifen, der den neuen Tag ankündigte. Und während das Licht stetig stieg, rosig einen Sonntag ankündigte, der warm und schön sich darbieten würde, verließen die Suchmannschaften deprimiert und ratlos die Heide, um sich ein wenig zu erholen von einer langen Nacht, die kein Lebenszeichen des Jungen gebracht hatte.

      Else Honert sah die Leute zurückkommen und preßte die Hand aufs Herz. Sie hatten Daniel nicht gefunden, man sah es schon von weitem ihrer Haltung an.

      »Die Polizei wird das Gebiet heute großräumig absuchen, Frau Honert«, sagte Heinz Brennecke, der den Einsatz der Feuerwehr geleitet hatte, »keiner verschwindet in der Heide spurlos.«

      »Ich habe Angst«, flüsterte Else Honert, »ich habe solche Angst.«

      Dann kam nach einer langen bangen Nacht die wohltuende Ohnmacht und hob für kurze Zeit den Schrecken auf.

      *

      Richard Bremer war Frühaufsteher – auch am Sonntag. An sechs Tagen der Woche mußte er es beruflich, am siebten tat er es schließlich aus Gewohnheit – und auch, weil keine Familie ihn daran hinderte.

      Frau Korten, seine Haushälterin, hatte am Sonntag immer frei, und so kochte er sich den Kaffee heute selbst – wie an jedem anderen Sonntag auch.

      Und während der Kaffee durch den Filter tropfte, trat er ans Küchenfenster, das zum Bauhof hinausging. Dort stand er regungslos dem aufziehenden Morgen zugewandt, und wäre er nicht so dominierend in seinem ganzen Erscheinungsbild gewesen, so hätte man ihn in seiner Einsamkeit gesehen.

      Die Tasse, die er wenig später aus dem Regal nahm und mit dem starken aromatisch duftenden Kaffee füllte, behielt er gleich in der Hand und nahm sie mit zurück ans Fenster.

      Das Fenster lag ein wenig erhöht, und er hatte selbst noch über die Mauer, die Privat- und Geschäftsbereich trennte, einen Blick über das weite Gelände.

      Im grauen Licht des Morgens ließ er seine Blicke prüfend über das gelagerte Baumaterial und den Maschinenpark gleiten. Der Hof platzte aus allen Nähten, so daß sie am Wochenende schon Transportmaschinen draußen im Gelände der Sandgrube abstellen mußten.

      Richard


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