Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 3 – Familienroman. Michaela Dornberg
Bitte, lass es uns jetzt auch tun.«
Nichts.
»Bitte, Leonie«, Gerdas Stimme klang beinahe flehend, »mach auf.«
Zunächst geschah wieder nichts. Doch lag es am Klang ihrer Stimme, dass Leonie nun doch nachgab?
Gerda hörte Geräusche, Schritte näherten sich der Tür, der Schlüssel wurde im Schloss umgedreht, die Tür wurde geöffnet.
Mutter und Tochter standen sich gegenüber.
Es war nicht zu übersehen, dass Leonie geweint hatte, und Gerda hätte sie jetzt am liebsten spontan in die Arme genommen. Doch sie traute sich nicht.
»Danke, dass du geöffnet hast, Leonie«, sagte sie stattdessen. »Es tut mir wirklich leid, dass es zwischen uns zu diesem Missverständnis gekommen ist.«
Leonie sah ihre Mutter zweifelnd an.
Missverständnis nannte sie das? Das war es keinesfalls gewesen. Ihre Mutter hatte kategorisch etwas abgelehnt.
»Mami, ich habe doch überhaupt nichts gesagt. Ich habe dir von dem Klavier in Manuels Zimmer erzählt, auch, dass ich einfach so ein Lied spielen konnte. Und ja, dann habe ich gesagt, dass ich gern Klavier spielen möchte, und da bist du sauer geworden. Mami, warum? Du selbst sagst doch immer, dass es nicht schaden kann, ein Instrument zu spielen. Und du hattest die Idee mit der Flöte. Welchen Unterschied macht es denn, ob es nun eine Flöte ist oder ein Klavier? Wenn du sagst, dass ein Klavier zu teuer ist …, der Manuel würde mir seines leihen. Er kann darüber verfügen, denn es gehört ihm, es ist von seiner verstorbenen leiblichen Mutter.«
Durch ihre Worte hatte Leonie ihr die besten Argumente vorweggenommen. Sie musste umdenken, und weil sie noch nicht ganz genau wusste, wie sie argumentieren sollte, versuchte sie, Zeit zu gewinnen und schlug vor, dass man sich doch erst einmal setzen sollte.
Damit war Leonie einverstanden. Sie fühlte sich doch auch unwohl dabei, dass sie und ihre Mami sich zum ersten Male so richtig gezankt hatten. Das fühlte sich überhaupt nicht gut an.
»Leonie, ich möchte nicht, dass du etwas falsch verstehst. Ich möchte einfach nicht, dass du dich überforderst. Sieh einmal, wir wohnen kaum hier, alles ist neu. Der Sonnenwinkel, das Haus, die Schule. Du hast gelernt Fahrrad zu fahren, und nun soll es plötzlich das Klavierspielen sein. Alles auf einmal geht nicht.«
Leonie blickte ihre Mutter ein wenig misstrauisch an.
»Aber das hättest du mir doch ganz ruhig sagen können, Mami. Warum bist du denn so heftig geworden?«, erkundigte sie sich.
Und Gerda konnte nicht sofort etwas darauf sagen.
»Ich weiß es nicht«, log sie, »es war wohl aus lauter Angst um dich. Du bist doch das Einzige, was ich habe, und ich möchte nicht, dass du in irgendeiner Form Schaden nimmst. Auch etwas, was einem eigentlich Spaß macht, kann einen überfordern, wenn es zu viel ist.«
So hatte Leonie es nicht gesehen. Sie war nur begeistert und glücklich gewesen. Und das mit dem Klavier hatte einen solchen Spaß gemacht, das konnte einen überhaupt nicht überfordern. Aber wenn ihre Mami es so sah. Sie wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte.
»Dann will ich erst einmal nicht mehr darüber reden, Mami«, sagte sie. »Aber irgendwann möchte ich lernen, Klavier zu spielen. Es ist so schön, es ist mir so vertraut. Weißt du, Mami, es war so herrlich, dass ich beinahe angefangen hätte, vor lauter Ergriffenheit zu weinen. Ist das nicht verrückt?«
Gerda sagte nichts, ihr fiel dazu auch nichts ein, sie atmete innerlich nur ein wenig erleichtert auf. Sie hatte ein wenig Zeit gewonnen, mehr allerdings nicht. Sie wusste, dass Leonie von einem Fieber gepackt war und dass es sie nicht wieder loslassen würde. Damit hatte sie nicht gerechnet. Würde es noch mehr geben, was sie nicht vorausgesehen hatte?
»Alles wird gut, mein Kind«, sagte sie ziemlich vage und stand auf. »Ich denke, ich kümmere mich jetzt um unser Abendessen. Da gibt es einiges vorzubereiten.«
Leonie sprang auf, umarmte ihre Mutter.
»Mami, ich bin froh, dass zwischen uns alles wieder in Ordnung ist. Krach mit dir zu haben, das ist überhaupt nicht schön.«
»Nein, das ist es wirklich nicht«, erwiderte Gerda, »und das sollten wir in Zukunft vermeiden, und das geht am allerbesten, wenn niemand etwas im Alleingang zu tun versucht. Wir sind ein Team, da muss einer sich auf den anderen verlassen können.«
Das verstand Leonie jetzt nicht so ganz.
»Aber Mami, das tun wir doch immer. Und ich habe doch auch überhaupt nichts weiter gesagt, und ich weiß, ehrlich gesagt, überhaupt nicht, warum du so heftig reagiert hast. Ich dachte, du würdest dich mit mir freuen.«
Gerda atmete tief durch, dann quetschte sie sich ein »ich freue mich doch«, hervor und hoffte, dass es einigermaßen glaubwürdig klang.
Es war eine Höchstleistung, die sie da vollbringen musste, denn wie konnte sie sich freuen. Es war eine große Gefahr, vor allem, sie hätte so etwas niemals für möglich gehalten.
Zu weiteren Worten hatte sie keine Kraft. Sie murmelte etwas, dann verließ sie eilig das Zimmer ihrer Tochter und wäre beinahe über Blacky gestolpert, der an ihr vorbeihuschte, um zu Leonie zu gelangen.
Gerda stolperte die Treppe hinunter.
Sie hatte es von Anfang an nicht gewollt, sie hatte es geahnt. Dass es allerdings so schlimm werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Sie mussten hier weg, dachte sie in ihrer ersten Panik, doch dann wusste sie, dass das so schnell nicht möglich sein würde. Es wurde überhaupt immer schwieriger. Leonie wurde älter, und man konnte sie nicht wie ein Kleinkind einfach manipulieren, und man durfte vor allem auch nicht mehr alle Entscheidungen allein treffen.
Leonie sah ihr Leben, ihre Zukunft in einem strahlenden Licht, während es für Gerda immer düsterer wurde, trotz des Sonnenscheins, der sich immer mehr am Himmel ausbreitete. Es war eine schöne Abendsonne, doch dafür fehlte ihr wirklich der Blick.
Sie war nicht einmal in der Lage, die Scherben des Tellers zusammenzufegen.
Das Klavier …
Eigentlich hörte Gerda gern Klaviermusik. Aber das war jetzt unmöglich geworden. Sie entschloss sich, alle CDs mit Klaviermusik, und sie besaß einige davon, ab sofort zu verbannen.
Sie ging zurück in die Küche. Leonie hatte sich für heute Abend ein Ratatouille gewünscht, und Gerda hatte bereits angefangen, das Gemüse zu schneiden. Sie brachte nicht die Energie auf, das Begonnene weiterzuführen.
Sie packte alles weg, dann würde es eben Butterbrote geben.
Leonie hatte das Klavierspiel für sich entdeckt!
Gerda trank kaum Alkohol, doch jetzt goss sie sich einen Grappa ein, von dem sie nicht einmal wusste, wieso sie den überhaupt hatte.
Sie würde alles dransetzen, Leonie von diesem Gedanken abzubringen.
Und wenn es überhaupt nicht ging?
Wenn es ihr im Blut lag?
Dieser Gedanke war für Gerda so schrecklich, dass sie sich ein zweites Glas eingoss.
Es drohte alles zusammenzubrechen. Es gab immer mehr Anzeichen dafür, und sie hatte keine Ahnung, wie sie es aufhalten konnte.
*
Teresa und Magnus von Roth kamen von einem Spaziergang zurück, als sie sahen, wie ein ihnen bekanntes Auto vor dem Wohnhaus ihrer Tochter parkte.
»Das wird Ricky sein«, freute Teresa sich und beschleunigte ihre Schritte. Sie liebte ihre Enkelin über alles, was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte, weil Ricky sie ein wenig an ihre eigene Jugend erinnerte.
Es war nicht Ricky, die ausstieg, sondern es war Fabian, deren Mann. Aber den mochten die von Roths ebenfalls sehr. Er passte zu Ricky, und Fabian war ein wunderbarer Mensch.
Sie hatten das Auto erreicht, begrüßten