Butler Parker 115 – Kriminalroman. Günter Dönges
»Ich verbitte mir Ihren mitleidigen Blick, Mister Parker«, grollte Lady Simpson leicht gereizt. »Sie haben es nicht mit einer Irren zu tun.«
»Sehr wohl, Mylady«, antwortete Parker in seiner höflichen Art. »Sollte mein bescheidener Blick sich vergessen haben, so bitte ich das entschuldigen zu wollen.«
»Das möchte ich Ihnen auch geraten haben«, warnte die stets ein wenig streitbare Dame. Sie befand sich in ihrer Stadtwohnung in London und sichtete nach einem ausgiebigen Frühstück gerade die Morgenzeitung.
»Haben Mylady noch Wünsche?« Parker war bereit, sich wieder zurückzuziehen.
»Sie bleiben«, entschied Lady Simpson, eine stattliche Erscheinung von annähernd sechzig Jahren. Sie erinnerte an eine Walküre aus einer Wagner-Oper. Man konnte sich die resolute Dame sehr gut mit Jagdspeer und Schild vorstellen. Sie trug ein wallendes Hauskleid und saß vor ihrem Schreibtisch. Agatha Simpson war wieder mal dabei, ihren ersten Roman anzufangen.
Das tat sie schon seit einigen Monaten, doch sie wurde zu ihrer inneren Freude immer wieder abgelenkt. Das hinderte sie jedoch nicht daran, an ihren Bestseller fest zu glauben. Sie hatte sich vorgenommen, eine gewisse Agatha Christie in Grund und Boden zu schreiben, denn sie kannte in ihrem Leben keine Minderwertigkeitskomplexe.
Lady Agatha besaß ein volles Gesicht mit einem energischen Kinn und einer ausgeprägten Adlernase. Ihre dunklen Augen funkelten stets unternehmungslustig. Ihr weißes Haar lag in vielen kleinen Locken auf dem Kopf. Sie verfügte über sehr große Hände, die einen recht zupackenden Eindruck machten. Diese Hände fuhrwerkten mit den Morgenzeitungen herum und fegten sie kurzerhand vom Arbeitstisch.
»Nun sagen Sie schon endlich etwas«, fuhr sie ihren Butler an und stand auf. »Was halten Sie von diesen Meldungen?«
»Ich möchte Mylady nicht vorgreifen.«
»Papperlapapp, Sie wollen sich nur ‚Um eine Stellungnahme herumdrücken, Mr. Parker!«
»Diese Zeitungsmeldungen entbehren meiner bescheidenen Ansicht nach nicht einer gewissen Komik, Mylady.«
»Sie glauben also nicht an Marsmenschen?«
»Nicht direkt, Mylady.« Parker war äußerst vorsichtig. Ihm war das grimmige Funkeln in den Augen der alten Dame nicht entgangen.
»Sie halten das alles für reinen Unsinn?«
»Für Mißverständnisse«, redete der Butler sich heraus. Er sah korrekt und steif wie immer aus, ein Butler, wie er eigentlich nur noch in englischen Gesellschaftsfilmen und Boulevardkomödien vorkam.
Josuah Parker war etwa fünfzig Jahre alt. Vielleicht auch älter. Doch das sah man ihm nicht an. Er schien von zeitlosem Alter zu sein. Er war mittelgroß, schlank und zeichnete sich durch eine schon fast penetrante Höflichkeit aus. Selbst in den verrücktesten Situationen verlor er nie seine Selbstbeherrschung. Gemessenheit und Würde zeichneten sein Tun aus.
Man sah es diesem stets in Schwarz gekleideten Mann nicht an, wie phantasievoll und fuchsschlau er war. Parker verfügte in übertragenem Sinn über eine riesige Trickkiste, die bis zum Rand gefüllt war. Gekonnte Improvisation verblüffte seine zahlreichen Gegner immer wieder.
Und er hatte Gegner!
Parker war Amateurdetektiv aus Leidenschaft. Er stand seit geraumer Zeit in den Diensten der Lady Agatha Simpson, einer immens reichen Frau, die mit dem Blut- und Geldadel der Insel verschwistert und verschwägert war. Da auch Mylady eine unstillbare Sehnsucht besaß, sich als weiblicher Detektiv auszuzeichnen, hätte Parker sich kein idealeres Dienstverhältnis wünschen können.
»Sie halten die Beobachtungen also für Mißverständnisse?« Lady Agatha Simpson sah ihren Butler fast verächtlich an. »Haben Sie überlesen, daß die Bewohner so etwas wie eine ›Fliegende Untertasse‹ gesehen haben?«
»Das, Mylady, geschieht immer wieder«, bemerkte Parker höflich und gemessen. »Luftspiegelungen, Wetterballons oder reine Erfindungskraft dürften dafür verantwortlich sein.«
»Wir werden nach Schottland reisen«, ordnete Agatha Simpson an. »Ich werde mir diese Mißverständnisse aus der Nähe ansehen.«
»Ich war bereits so frei, Mylady, das Reisegepäck zu richten«, antwortete der Butler.
»Sie haben bereits gepackt?« Agatha Simpson sah ihren Butler verblüfft an.
»In der Tat, Mylady«, meinte der Butler, »mir war in aller Bescheidenheit bewußt, daß Mylady nach der Lektüre der Notizen Schottland einen sofortigen Besuch abzustatten wünscht.«
*
Ben Melness war ein gestandener Mann von fünfzig Jahren, der als Lastwagenfahrer sein Brot verdiente.
An diesem Nachmittag saß er am Steuer seines Wagens und befand sich auf der Fahrt von Thurso nach Bettyhill. Er kannte diese Küstenstraße im äußersten Norden von Schottland in- und auswendig. Es machte ihm nichts aus, daß leichter Nebel aufgekommen war.
Er hatte das Radio eingeschaltet und hörte Musik. Ben Melness rauchte eine Zigarre und war mit sich und der Welt zufrieden. Er verlor auch dann noch nicht seine Gelassenheit, als der Nebel plötzlich dichter und irgendwie zäher wurde. Eine träge Suppe schien die Fahrbahn zu verschlucken.
Ben schaltete herunter und fuhr sicherheitshalber langsamer weiter. Hier oben an der Küste war solch ein Wetter nicht ungewöhnlich, man verstand sich darauf einzustellen und ging kein unnötiges Risiko ein. Plötzlich wurde diese träge Suppe allerdings derart breiig, daß Ben Melness unwillkürlich auf das Bremspedal trat und erst mal hielt. Er hatte jede Orientierung verloren und wußte nicht mal genau, auf welcher Straßenseite er sich befand.
Er schaltete das Radio ab, öffnete die Wagentür und kletterte aus dem Fahrerhaus. Er trat nur wenige, zögernde Schritte, als er den Wagen bereits nicht mehr sah. So etwas wie Angst packte ihn. Er ging zurück zu dem Fahrzeug, um wenigstens einen Bezugspunkt zu haben, doch er konnte den Laster nicht mehr finden.
Aus der leisen Panik wurde echte Bestürzung. Er war schon längst nicht mehr mit sich und der Welt zufrieden. Ben Melness fluchte, versuchte sich zu erinnern, wo der Laster sein mußte, und tastete sich erneut durch den weißgrauen Dunst...
Nichts! Der Laster blieb verschwunden. Er war gewiß kein Spielzeug und leicht zu übersehen. Es handelte sich immerhin um einen ansehnlichen Sattelschlepper, dessen Umrisse der Fahrer zumindest bald ausmachen mußte.
Diese Umrisse tauchten jedoch nicht auf.
Ben Melness versuchte es erneut, ging jetzt systematisch vor und bekämpfte seine Angst. Er baute sich erneut auf und suchte erst mal einen der beiden Straßenränder. Als er das Bankett erreicht hatte, blieb er mit seinen Schuhen auf dem weichen Untergrund und ging genau fünfzehn Schritte weiter. Als er den Lastwagen immer noch nicht entdeckte, überquerte er die Straße und suchte die andere Seite auf. Dann marschierte er zwanzig Schritte zurück, blieb kopfschüttelnd stehen und verstand die Welt nicht mehr.
Sein Lastwagen war einfach nicht zu finden. Er schien sich im Nebel aufgelöst zu haben. Selbst die Nebelscheinwerfer, die er eingeschaltet hatte, ließen sich nicht ausmachen.
Ben Melness zuckte zusammen, als er dazu noch ganz in der Nähe ein Glucksen hörte.
»Ist da wer?« rief er in den Nebel hinein.
Irgend etwas kicherte, dann war wieder Ruhe.
»Hallo, ist da jemand?« rief er erneut, diesmal bereits ein wenig gereizt. Er fühlte sich kräftig auf den Arm genommen. »Ist da wer?«
Ben Melness hätte jetzt liebend gern zumindest ein Kichern gehört, doch es blieb aus. Der weißgraue Brei wurde noch dichter und zäher. Melness schluckte und kam auf eine blendende Idee. Es war sinnlos, weiter herumzuirren, obwohl sein Laster nicht weit sein konnte. Er versuchte es mit einem Schotterstein. Er bückte sich, hob einen handlichen Brocken auf und warf ihn mit ziemlicher Kraft in den Nebel. Er hoffte, seinen Wagen zu treffen.
Nichts...
Ben Melness versuchte es wieder. Diesmal wählte er eine andere Richtung. Irgendwann mußte es ja mal