Animus. Astrid Schwikardi
lebendig, so rein. Obwohl sie mit der Hakennase, dem maskulinen Kinn und den Pickeln auf der Stirn nicht im herkömmlichen Sinne hübsch war, doch was sagte das Gesicht einer Frau schon über sie aus? Wie viele von den äußerlich makellosen Aushängeschildern waren im Laufe der Jahre zu ausdruckslosen Fleischmasken mutiert? Vor ihm saß die vollendete Perfektion der Reinheit. Ein Kribbeln breitete sich in seinen Lenden aus, als er sich vorbeugte und den Duft ihrer Haare einsog. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte sie gefunden. Endlich, nach all den Jahren. Und schon bald wären sie wieder vereint.
Gegen Viertel nach acht erreichten Mark und Stefan das Anwesen der Dahlmanns. Die Anspannung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, als sie das Grundstück betraten und an der Haustür klingelten. Der Geruch von brennendem Kaminholz lag in der Luft. Stagnierende Temperaturen um den Gefrierpunkt kündigten unaufhaltsam den nahenden Winter an.
Mark sah sich um und hielt Ausschau nach Nachbarn, doch niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen. Mit dem Schlüssel von Natalie Heidkamp verschaffte er sich Zugang zu dem Einfamilienhaus. Seine Hand tastete nach einem Lichtschalter, bis kurz darauf ein Messingkronleuchter in hellem Glanz erstrahlte.
Schmucklose Wände stachen ihm ins Auge. Ein Rest an Möbeln und ein kahler Steinboden, auf dem vor Kurzem noch ein handgeknüpfter Orientteppich gelegen hatte, waren von der einst wohnlichen Behausung übrig geblieben.
„Die Stromrechnung hat er auf jeden Fall bezahlt“, sagte Stefan, während Mark seinen Blick durch den Flur schweifen ließ.
„Hat Dahlmann dir gegenüber mal erwähnt, dass er umziehen will?“
„Nicht das ich wüsste“, entgegnete Stefan.
Mark schüttelte ungläubig den Kopf und machte sich durch Rufen bemerkbar, obwohl er bereits ahnte, dass ihm niemand antworten würde.
„Hallo? Herr Dahlmann? Sind Sie zu Hause?“ Er näherte sich einem Treppengeländer und schaute hinauf. Danach hastete er die Stufen hoch und betrat eine Galerie. Stefan folgte ihm nur wenige Meter dahinter. Zwei Ledersessel und ein ausgeräumter Dielenschrank verstärkten die düstere Atmosphäre, die im Haus herrschte. Nachdenklich lauschte er in die Stille. Sein Blick fiel auf eine angelehnte Tür, und augenblicklich fielen ihm die verschlossenen Fensterläden über dem Eingangsbereich ein. Er ging ins Zimmer und tastete nach dem Lichtschalter. Es dauerte einen Moment, bis er ihn fand und zwölf Deckenstrahler den geräumigen Raum in warmes Licht tauchten. Ein Wäscheberg mit getragener Kleidung, der problemlos drei Waschmaschinen gefüllt hätte, türmte sich neben dem Doppelbett auf. Ein muffiger Geruch hing in der Luft. Hastig betätigte er die Rollladenautomatik und riss das Fenster auf. Kalte Luft strömte herein, die er dankbar einatmete. Mit einem besorgten Gesichtsausdruck drehte er sich um und sah Stefan fragend an. „Kannst du mir das hier mal erklären?“
Stefans Gesicht verformte sich zu einer Grimasse.
„Für den Saustall hätte ich noch eine, aber das war es dann auch.“
Mark betrachtete den Schiebetürenschrank und ließ eine Tür zur Seite gleiten. Offensichtlich Christine Dahlmanns Schrankhälfte, denn auf den Kleiderstangen hingen lediglich leere Kleiderbügel. Im oberen Schubfach erkannte er Bettwäsche und Handtücher. Hinter der anderen Schiebetür verbargen sich eine unzählige Anzahl an Herrenhemden, aufgehängt in Reih und Glied. Auf der Stange darunter Bundfalten- und Anzughosen, dazwischen die ein oder andere Jeans. Ein flaues Gefühl machte sich in ihm breit, als er das Schlafzimmer verließ und die Treppe hinunterstieg. Ein kiloschwerer Stein schien mit seinen Eingeweiden Tango zu tanzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht drückte er die Hand in den Magen und steuerte die Küche an. Vor dem Spülbecken blieb er stehen und atmete mehrmals tief durch, bis sich der Schmerz langsam verflüchtigte. Sein Blick fiel auf den Küchentisch, der mit Brotkrümeln übersät war. Am Ende des Tisches entdeckte er einen Stapel ungeöffneter Briefe. Er nahm die Briefumschläge unter die Lupe, bis er den Poststempel mit dem ältesten Datum ausfindig gemacht hatte. Kein Brief war mehr als sechs Tage alt. Ihm stach die zusammengelegte Tageszeitung auf der Eckbank ins Auge. Der Ausgabetag war auf den vergangenen Dienstag datiert. Mehr Zeitungen gab es nicht. Vorsichtig versuchte er, den Klebestreifen eines Briefumschlags zu lösen. Dummerweise riss das dünne Papier in der Mitte. Er fluchte lautstark.
Ihm war klar, dass Dahlmann platzen würde vor Wut, wenn er mitbekäme, dass jemand seine Post gelesen hatte. Nur hatte er keine andere Wahl.
Minuten darauf öffnete Mark bereits den sechsten Brief, nachdem die vorherigen Schreiben keine neuen Erkenntnisse gebracht hatten. Zeitgleich betrat Stefan die Küche, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und verschränkte breit grinsend die Arme. „Nun sieh dir einen unserer Vorzeigebullen an. Verschafft sich Zugang zum Haus seines Chefs und verletzt mit allen Regeln der Kunst das Briefgeheimnis.“
Mark verzog seinen Mund zu einem Lächeln, doch erstarb es in der Aufwärtsbewegung, als er den Namen des Absenders las, der unter dem Sichtfenster hervorlugte. Rechtsanwalt Dr. Harald Voigt. Er pfiff durch die Zähne und wollte gerade das Kuvert aufreißen, als er innehielt. Nachdenklich betrachtete er den Briefkopf und malte sich Dahlmanns cholerischen Anfall vor seinem geistigen Auge aus. Sein Chef würde ihn um einen Kopf kürzer machen, egal wie viele Briefe er las. Neugierig öffnete er den Umschlag und begann zu lesen.
Das Schreiben des Anwalts erfolgte im Auftrag der Mandantin und bestätigte in wenigen Worten, was er bereits geahnt hatte. Er entnahm dem Brief einige persönliche Informationen. Hauptanliegen war aber Christine Dahlmanns Wunsch nach Scheidung, und das lieber heute als morgen.
Sie sahen sich weiter im Haus um, fanden aber nichts, was sie weitergebracht hätte, und traten eine Viertelstunde darauf an die frische Luft. Eisiger Wind schlug ihnen entgegen. Mark wollte gerade die Haustür hinter sich zuziehen, als plötzlich das Läuten eines Telefons an sein Ohr drang. Verwundert hielt er inne und lauschte. Erneut vernahm er ein Klingeln und stürzte zurück ins Haus. Er eilte den Flur entlang, während das Telefonläuten lauter wurde, riss die Wohnzimmertür auf und hastete zum Beistelltisch. Eilig nahm er das schnurlose Telefon aus der Ladestation.
„Hallo?“
Stille.
„Hallo, wer ist denn da?“
Er vernahm ein leises Atmen, dann klickte es in der Leitung.
Kapitel 11
Gegen dreiundzwanzig Uhr verließen Helena Moor und Daria Warnke den Filmpalast. Helena gähnte, während sie auf ihr Smartphone blickte, und zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Die zwei Frauen schlenderten durch das Belgische Viertel und unterhielten sich über die gruseligsten Szenen des Films, bis sie die Geschäfte der Maastricher Straße hinter sich gelassen hatten. Am Brüsseler Platz blieben sie stehen.
„Sollen wir noch irgendwo was Trinken gehen?“, fragte Helena und gähnte hinter vorgehaltener Hand.
„So müde, wie du bist, gehörst du nur noch ins Bett. Soll ich dich noch ein Stück begleiten?“
Helena winkte ab. „Die paar Meter schaffe ich auch allein.“
„Na schön, aber lass dich nicht wegklauen. Ich bin dann morgen gegen halb acht bei dir.“
Die Freundinnen umarmten sich zum Abschied. Danach trennten sich ihre Wege. Lange sah Helena ihrer Freundin hinterher, bis sie die Straße überquerte und hinter einer Hausecke verschwand. Gedankenversunken schaute sie zu den Kirchtürmen, die in den Nachthimmel ragten. Auf einer Bank vor einer verwilderten Steinmauer saßen Obdachlose. Einer von ihnen trank einen Schluck aus einem Flachmann und ließ ihn danach in einer Plastiktüte verschwinden. Aus dem Restaurant Bali kamen gerade zwei Männer, die Händchen haltend in Richtung Hohenzollernring schlenderten. Helena trat den Heimweg an und passierte den Brüsseler Platz, als sie eine Männerstimme rufen hörte. Verwundert drehte sie sich um.
„Ich glaube, das hast du gerade verloren.“ Ein Mann um die dreißig kam lächelnd auf sie zu und drückte ihr ein Amulett in die Hand. Sie warf einen kurzen