Grenzgänger. Peter C. Burens
dass wir ähnliche Vorlieben haben», schmunzelt er, beobachtet die Bewegung ihrer Hände, der Lippen. Das muntere Wesen erregt bei ihm mehr als rein fachliche Begeisterung.
Wann die Anrede vom Sie zum Du wechselt, und wer von den Beiden das miteinander vertraut Werden zuerst bemerkt? Irgendwo beim Überschreiten der Vogesen muss es geschehen sein.
Der Wortwechsel geschieht subtil, unbeachtet. So wie die deutsche Sprache bei der Fahrt nach Westen zum Elsässischen mutiert und bald ganz vom Französischen abgelöst wird.
Ein Straßenschild ruft ihm ins Gedächtnis, dass sich in Luxemburg, Flandern, Holland eigene Sprachen erhalten haben. Über die Zeiten hinweg sind sie Beleg für das Pochen auf Eigenständigkeit im ehemaligen Zwischenreich Lothars.
Zur Verdeutlichung der sprachlichen und territorialen Gemengelage zitiert er das moselfränkische Bekenntnis der Luxemburger: Wir welle bleiwe wat mir sin. Sie verzichtet auf ein Bonmot in Schwyzerdütsch.
Er schaltet die Außenbeleuchtung des Autos an. Durch den starken Regen hat die Abenddämmerung früher als im Sommer üblich eingesetzt.
Dörfer ziehen schemenhaft vorbei, flackernde Lichter in den Häusern. Wolkenverhangene Wälder, nebelbedeckte Wiesen und Weiden.
Ohne Unterlass prasseln Wassermassen gegen die Fenster. Der Scheibenwischer quietscht aufgeregt. Hagelkörner hämmern blechern auf das Dach. Die Reifen schleudern Regenpfützen hart gegen den Unterboden der Grünen Minna.
So nennt er seinen Wagen liebevoll, getauft auf die Farbe des PKWs und den Namen der Tochter des Doktorvaters. Mit ihr verbindet ihn ein amouröses Fahrterlebnis vor zwei Dekaden.
Er hat die Geschwindigkeit gedrosselt. Dreißig Stundenkilometer sind bei den widrigen Witterungsverhältnissen für sein Gefährt das Äußerste. Mehr wäre nicht zu verantworten.
«Wie kann ich die Rückenlehne des Sitzes verstellen?» Sie räkelt gähnend den schlanken Körper.
Als Kavalier beugt er sich galant und hilfsbereit über sie. Das Steuerrad in der linken Hand, bedient er rechts einen Hebel. Die Lehne senkt sich.
Jetzt angelt seine rechte Hand auf dem Rücksitz nach der Leinenjacke und einem geringelten Pullover. Fürsorglich breitet sie der Fahrer über der Schläfrigen aus.
«Mach’ ruhig die Augen zu. Ich wecke dich vor Verdun.»
Gegenüber der Eingenickten erwähnt er beiläufig, dass er in einem Dorf nahe der Stadt für sich Quartier gemacht hat.
Le Petit Bonheur liegt in einem Weiler auf den Höhen am Ufer der Maas. Ein altes Herrenhaus, aus massiven Kalksteinen erbaut. Mit acht Gästezimmern, ohne Restaurant.
Er hupt bei der Ankunft zweimal. Wie von Geisterhand öffnet sich das hölzerne Tor zur Einfahrt in den Hof.
Durch die schrille Hupe des Autos aufgeschreckt, wacht sie auf, reibt die Augen. Verwundert erblickt sie Unbekanntes, vernimmt französische Laute.
«Vous n’êtes pas seul, Monsieur?», stellt ein Concierge erstaunt fest. Aber auch «Bon, ça fait rien.»
Im Nu sind alle Transportstücke entladen, zehn lange Meter ohne Schirm im strömenden Regen zurückgelegt. Eilig wird aufgeweichter Lehmboden durchwatet. Die Fußabdrücke verlieren sich schnell im glitschigen Schlamm.
Über die knarrende Stiege führt man das Paar in eine geräumige Kammer mit Kamin, bleiverglasten Butzenscheiben, verblichenen Stofftapeten, antikem Mobiliar. Der Brokatvorhang wirft dekorativ Falten.
Mit einladender Handbewegung deutet der Concierge auf das vor Tagen telefonisch bestellte Tellergericht: Ziegenkäse, Tomaten, Ardenner Schinken und Quiche Lorraine. Stolz präsentiert der Mann eine entkorkte Flasche Beaujolais und ofenfrisches Baguette.
«Dies sollte für uns beide ausreichen, was meinst du?» Er schielt nach ihr. Die Frage bedarf keiner Erwiderung.
Flink ist die beige Überdecke des Französischen Betts in den Maßen ein Meter vierzig mal zwei Meter gefaltet, vom Hausdiener auf einem Beistelltisch deponiert. Zur Illumination zündet er zwei Kerzen an. Nach einem «Bonne soirée» fällt die Eichentür hinter dem Concierge eisern ins Schloss.
Bereits beim Betreten des Raums hatten die Neuankömmlinge die vom Lehm verschmutzten Schuhe ausgezogen und vor der Tür zum Trocknen aufgereiht.
Gut erzogen, lässt er ihr bei der Toilette und dem Ablegen durchnässter Kleider den Vortritt. Er wühlt derweil in seiner Aktenmappe.
Als sie aus dem Bad tritt, ist der Oberkörper unbekleidet. Ein Badetuch allein um die schmalen Hüften geschlungen.
Er sieht sie an. Ihren grazilen Hals, weiße Brüste, den makellosen Bauchnabel. Rosa lackierte Fingernägel glänzen.
Ihr Verhalten verwirrt, jedoch nur kurz. Es wirkt weder obszön noch schamlos, eher jugendlich unbefangen. Natürlich, wie selbstverständlich. Mit einem Schuss Egozentrik.
Jetzt sitzt sie aufrecht im Bett, den Rücken am gepolsterten Kopfteil. Ihren Zeigefinger in Richtung des vorbereiteten Abendbrots gestreckt.
«Ich möchte ein Stück Baguette mit viel Käse. Zuallererst aber ein großes Glas Rotwein als Willkommenstrunk.» Weiblich kokett folgt ein «Bitte».
Dienstbeflissen erfüllt er ihr jeden Wunsch. Reicht behänd ein Brot mit Ziegenkäse. Die Weingläser klingen beim Anstoßen wie helles Geläut.
Beide lachen, essen. Sprechen über das scheußliche Wetter, Kirchenfenster, weltliche und allzu weltliche Dinge.
«Ist das nicht öde, so ein Happening von Historikern?», unterstellt sie. «Treffen sich da nicht männliche Grufties mit weißen Bärten, dunklen Anzügen und altmodischen Fliegen? Im Gespräch mit verknöcherten, senilen Jungfern, piepsenden Archivmäusen?» Beschwipst kringelt sie sich.
«So schlimm ist es auch wieder nicht.» Er wiegelt ab. «Da kommen morgen bestimmt eine Menge Nachwuchsforscher. Die nutzen solche Treffs als Stellenbörse.»
Missbilligend runzelt sie die Stirn. Mimik und Gestik sind eindeutig.
Er ist verdutzt, füllt die Weingläser nach. «Äh, habe ich etwas Blödes gesagt? Ich kann mich nicht entsinnen.» Seine Pupillen fixieren den Kristallleuchter an der Decke.
Sie faucht garstig. «Streng deinen Grips an!»
«Ich werde verrückt!» Ihm dämmert es. «Du bist doch nicht etwa eine Emanze? Ich muss wohl extra beteuern, dass auch Frauen was in der Birne haben?»
«Du musst», brummt sie unterkühlt. «Im Übrigen bin ich keine Emanze, dafür emanzipiert.»
Mit dem Satz «Und ich bin kein Historiker, sondern Literaturgeograph» lotst er die Unterredung auf Unverfänglicheres, gibt weitere Einzelheiten zu seiner Person preis.
«Als Exot soll ich die Diskussion in Verdun wohl anreichern», so seine Vermutung. «Besitze allerdings keine Fliege als Halsschmuck, weder gestreift noch gepunktet. Bloß eine Krawatte mit Blümchen-Muster aus grauer Vorzeit.»
Ein herzhaft unbekümmertes Gejohle aus zwei Kehlen hallt in der Kammer, will kein Ende nehmen.
«Was für ein schöner Tag.» Sie atmet tief, legt eine Hand auf seinen muskulösen Unterarm. «Merci.»
«Wir machten uns getrennt auf den Weg, sind zusammen hierher gefahren, um diesen Abend gemeinsam zu verbringen.» Sie schaut nach ihm, vergnügt und zufrieden.
«Glaubst du an Zufälle?»
Er zögerlich. «Hm, weiß nicht so recht. Ich mache mich dann mal für die Nacht fertig.» Schon verschwindet er im Bad.
Nach zehn Minuten kehrt er zu ihr zurück, kalt geduscht und wohlgemut, im himmelblauen Pyjama. Den Odem des Mittelalters neutralisiert eine Zahnpasta mit Pfefferminzgeschmack.
Da träumt die Beifahrerin längst dem nächsten Tag entgegen. Entspannt, mit einem Engelslächeln. Von Kopf bis Fuß eingehüllt in