Grenzgänger. Peter C. Burens

Grenzgänger - Peter C. Burens


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überfordert ihn, Männer-Phantasien halten ihn gefangen.

      Für ihn ist es ungewohnt, die Nacht neben einer begehrenswerten Frau zu verbringen. Einfach nur so.

      Um vier Uhr in der Früh flüchtet er aus dem warmen Lager. Kauert fröstelnd in einem Ohrensessel neben dem unbeheizten Kamin. Die um den Leib drapierte Überdecke des Betts bietet kargen Schutz vor innerer Kälte und mangelnder Behaglichkeit.

      Sie erwacht gegen sieben Uhr, ausgeruht und gut gelaunt. Das Übernachten in Mehrbettzimmern bei Freunden ist für sie gelebter Alltag, nichts Ungewöhnliches.

      Mit Erstaunen nimmt sie wahr, dass er bereits aufgestanden ist. Munter guckt sie Richtung Fenster.

      Der Himmel hat über Nacht aufgeklart. Heiteres Morgenlicht blinzelt durch die Scheiben. Nur am Horizont ein tief hängendes Firmament und Wolken, die hastig ostwärts ziehen.

      «By the way, ich hab’ nachgedacht», gesteht sie ihm. «Was ich dir gestern noch sagen wollte …»

      Er blickt voller Bangen und Hoffen zu ihr hinüber. Sie zwinkert ihm zu.

      «Das Kölner Kirchenfenster von Gerhard Richter erstrahlt besonders prächtig um die Mittagsstunde. So eine Art leuchtender Teppich fürs Meditieren. Total cool. Da musst du unbedingt hin.»

      Müde, unrasiert, über sein unfertiges Referat für den internationalen Kongress brütend, setzt er sich zu ihr auf die Bettkante.

      «Wie gern würde ich jetzt mit dir durchbrennen. Nach Paris. Oder auch nur bis Reims.»

      Bevor er weitere Pläne schmieden kann, berührt ihre Hand den geöffneten Mund. Streichelt sanft über seinen Kopf.

      Das Petit Déjeuner hat die Frau des Concierge im Turmgemach hergerichtet: Zwei Croissants, Baguette-Stücke von zehn bis fünfzehn Zentimetern Länge, Mirabellenmarmelade und gesalzene Butter in Plastikdöschen. Die Messer sind in Papierservietten gewickelt. Dazu für jeden eine Boule, gefüllt mit dampfendem Café au Lait.

      «Extrem mickrig, so ein französisches Frühstück. Dürfte im Übernachtungspreis ja wohl inkludiert sein?» Er rümpft die Nase, tastet nach ihrer Hand. «Hätte dir gerne mehr Luxus gegönnt.»

      Der Frühstückstisch steht in einer raumhohen Fensternische mit neugotischem Rundbogen, bietet den Gästen weite Sicht. Auf eine wellige, ockerfarbene Hochfläche mit abgeernteten Raps- und Weizenfeldern, niedrige Hecken als grüne Grenzmarkierung, kleine Ansammlungen von buschigem Gehölz. Tupfer von rotem Klatschmohn zieren saftige Wiesen. Keine Straßen, Autos, Menschen sind zu sehen. Allein die malerische Natur gibt sich ein Stelldichein.

      «Die Farben Lothringens ändern sich, den Jahreszeiten entsprechend», vermerkt er nach einem Schluck Kaffee trocken.

      «Sie bieten stets aufs Neue ein Schauspiel für Augen und Sinne. Keinerlei Hektik verbreitend ermöglichen sie ein Relaxen pur. Wie deine bunten Kirchenfenster.»

      Gegen neun Uhr bringt er sie mit dem Wagen zur nächsten Autobahnauffahrt. Hält mit den Händen das Lenkrad umklammert.

      Sie zieht ihr T-Shirt mit dem Aufdruck PROUD TO BE A GIRL straff. Die an Po und Schenkeln eng anliegende Jeans zwickt.

      Beide schweigen im Verlauf der Wegstrecke, stieren vor sich hin, scheinen den jeweils anderen nicht wahrzunehmen.

      «Sehen wir uns wieder?»

      Mit stereotyp klingenden Worten verabschiedet er die ihm seit einem Tag Vertraute. Dennoch schwingt Optimismus mit, auch wenn sie teilnahmslos dasitzt.

      «Schreib’ mir für alle Fälle deine Telefon-Nummer auf», bettelt er fast flehentlich. Dezent steckt er ihr seine Mobilnummer zu.

      Geschwind notiert sie Zahlen auf einer Tankquittung, die er in der Mittelkonsole der Grünen Minna für steuerliche Zwecke aufbewahrt. Schnappt sich die Umhängetasche, öffnet die Autotür, haucht ein «Adieu» auf seine Stirn.

      Er sieht ihr nach. Richtung Reims, Paris. An silbern blinkenden Sportschuhen klebt die ockergelbe Erde Lothringens.

       Alte Kameraden

      Als der Literaturgeograph das Palais des Congrès in Verdun betritt, hat ein deutsch-französisches Schlachtengetümmel begonnen.

      Der Präfekt des Départements Meuse lässt den Ur-Vater aller Europäer, Charlemagne, in französischer Sprache hochleben. Karl der Große sei durch und durch ein Lothringer gewesen, wovon die Pfalz in Thionville und das Bistum Metz zeugen.

      Die Kulturministerin eines deutschen Bundeslandes knüpft in ihrer Grußadresse allzu gern an das Erbe des Karolingerreichs an, ohne sich freilich den Hinweis zu versagen, dass Aachen der Lebensmittelpunkt des Kaisers und seines Hofstaates war. Für sie ein Grund, in Deutsch vorzutragen, zumal ihr Schulfranzösisch dringend der Auffrischung bedürfe.

      Aber auch die Politikerin von jenseits des Rheins will an einer geschichtsbeladenen Stätte wie Verdun versöhnlich enden. Sie schließt daher mit der pathetischen Formel von Charles de Gaulle, für sie ein authentischer Sohn Lothringens: Vive la France! Vive l’Allemagne! Vive la coopération franco-allemande!

      Zwischenzeitlich hat der zu spät Gekommene einen freien Platz erspäht. In der vorletzten Reihe, am Gang. Auf Zehenspitzen pirscht er an, ergattert ihn, ist erleichtert. Vorsichtig setzt er sich auf den ächzenden Stuhl, legt die Aktentasche und einen überdimensioniert großen Folienband auf den Nachbarsitz.

      Von seinem Platz kann er rund zweihundert zumeist grauhaarige und kahle Hinterköpfe betrachten, allesamt der männlichen Spezies zugehörig. Dazu rot-braun gefärbte oder blondierte Frauenhaare.

      Eminenzen und Exzellenzen bevölkern die erste Reihe im Saal. Ihre schiere Anwesenheit verleiht der Versammlung öffentliche Wahrnehmung und Reputation.

      Die Beine über Kreuz, Arme vor der Brust verschränkt, Hände auf dem Schoß gefaltet. So verfolgen die Honoratioren jedes Wort der Eröffnungsreden. Dies routiniert, mit einer bei ungezählten Ereignissen antrainiert würdigen Haltung und gespielten Geistesgegenwart.

      Dahinter in den Reihen zwei bis vier kraftvolle Claqueure, die der ersten Reihe möglichst nahe sein wollen. Der eine und andere von ihnen mochte früher selbst einmal ganz vorne platziert worden sein, sogar namentlich.

      Zu dieser Gruppe Altgedienter gesellen sich hoch motivierte Aufsteiger der Historikerzunft. Durch ersichtliche Präsenz versprechen sie sich für die Zukunft einen Platz im Scheinwerferlicht.

      Ab Reihe fünf die an den Vorträgen, Debatten und Inhalten Interessierten. Von den Organisatoren wenig hofierte Personen beiderlei Geschlechts, ob jung oder alt, mit großem Wissensdurst.

      Diese erhoffen sich nichts von der ersten Stuhlreihe, dafür aus erster Hand neue Antworten auf alte Fragestellungen. Am Ende der Zusammenkunft wollen sie geistig inspiriert nach Hause fahren, das Vernommene vertiefen, selbst recherchieren und intensiv forschen. Geknüpfte Fachkontakte um neuer Erkenntnisse willen pflegen.

      Der Gastredner schätzt die Abgeschiedenheit und private Atmosphäre der hinteren Stuhlreihen. Oft hat er erlebt, dass Gleichgesinnte bei aufkeimender Langeweile E-Mails lesen, Korrespondenzen erledigen, Grüße versenden.

      Auch das Blättern in Magazinen von handlichem Format ist hier Sitzenden nicht fremd. Keine Seltenheit, renommierte Wissenschaftlerinnen beim Feilen rotlackierter Fingernägel zu erwischen.

      Das Eingangsreferat hält eine Professorin für Neueste Geschichte an der Sorbonne. Die schmächtige Dame ragt hinter dem Rednerpult kaum hervor, ordert eine Fußbank. Eloquent lässt sie hiernach das 20. Jahrhundert Revue passieren.

      Der illustren Gesellschaft ruft sie ins Gedächtnis, dass bei den Kämpfen um Verdun und an der Somme 1916 mehr Soldaten ihr Leben verloren als 27 Jahre später in Stalingrad. Sie zitiert den Luxemburger Jean-Claude Juncker, wonach nur derjenige Europa verstehe, der seine Soldatenfriedhöfe besucht habe.

      Nach detailreichen Schilderungen zu Robert Schuman,


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