Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus


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Es bedarf hier einer größtmöglichen Konstanz in der räumlichen Umgebung und vornehmlich in der Gewährung von Vertrautheit durch eine Bezugsperson.

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      Bei Überforderungen können Verhaltensstereotypien auftreten, auch schnell einschießende Erregungszustände mit Wutausbrüchen, schweren Selbstverletzungen und sachaggressivem Verhalten.

       Zustände von Unwohlsein schnell erkennen

      Ein Mensch in diesem Entwicklungsalter bedarf besonderer milieutherapeutischer Strukturen. So müssten pflegerische Tätigkeiten durch bewussten, einfühlenden und individuellen Beziehungsaufbau geschehen, in der Regel auch durch zentralen Körperkontakt. Es gilt, Sicherheit zu schaffen in den grundlegenden alltäglichen Notwendigkeiten wie Mahlzeiten und Hygiene. Weiterhin ist es wichtig, eine konsequente Reizregulation zu ermöglichen und Zustände von Unwohlsein schnell zu erkennen und entsprechend zu lindern. Außerdem sollte man darauf achten, regelmäßige Kontaktzeiten zu gewähren, aber auch zu begrenzen.

       Förder- und Beschäftigungsbereich

      •Ein Mensch im Entwicklungsalter bis zu ca. 1 ½ Jahren (SEO II) zeigt dann auch die Fähigkeit, in kleinen homogenen Gruppen verweilen zu können. Die Beschäftigung mit Materialien (Sand, Knete, Papier) beginnt. Das entspricht dem Niveau eines Förder- und Beschäftigungsbereichs.

      Überforderungen würden sich hier zum Beispiel bei Menschen im Bereich der Sozialtherapie in Form von regressivem (»rückschrittlichem«) Verhalten, wie Kot schmieren oder Ähnliches, zeigen.

      Eine milieutherapeutische Struktur in diesem Entwicklungsalter sollte eine Ritualisierung der Abläufe ermöglichen sowie die andauernde Verfügbarkeit einer Bezugsperson.

      Weiter gilt es hier, für Pausen in vertrautem Milieu mit Entspannungsangeboten zu sorgen und erwünschtes Verhalten unmittelbar zu verstärken. In diesem Lebens- bzw. emotionalen Alter ist es oft noch sinnvoll, unübersichtliche und ausgedehnte größere Veranstaltungen, wie Konzerte oder Ähnliches, eher zu vermeiden oder gut äußerlich und innerlich zu begleiten oder aber ein solches Angebot so auf den Betroffenen zuzuschneiden, dass er es gut bewältigen kann.

       wachsende persönliche Autonomie

      •Im Entwicklungsalter bis zu 3 Jahren (SEO III) verfügt ein Mensch über wachsende persönliche Autonomie. Sogenannte Übergangsobjekte (Stofftiere, Puppen usw.) gewinnen wesentliche Bedeutung. Es wird wichtig, Fähigkeiten der Betroffenen hervorzuheben und durch die Umgebung anzuerkennen. In einer Verhaltenskonsolidierung gilt es, erwünschtes und sozial hilfreiches Verhalten zeitnah zu verstärken und zunehmend auch kognitiv zu bewältigen. Dieses Lebensalter bedarf noch stark der Begleitung einer vertrauten Bezugsperson in der »Eroberung« von zunehmend sich öffnenden sozialen Bereichen (Haus oder Werkstatt).

       soziale Kompetenz

      •Bei einem Menschen im sozio-emotionalen Entwicklungsalter von 3 bis ca. 7 Jahren (SEO IV) bildet sich zunehmend das Bedürfnis, soziale Kompetenz zu zeigen. Er strebt in eine »Peer-Group«, hält sich also gerne unter »Gleichaltrigen« auf; Regeln und Normen des sozialen Lebens werden zunehmend kognitiv erfasst.

      Der Mensch mit Unterstützungsbedarf fragt nun nach der Förderung eigener Interessen. So können spezifische Gruppen etwa in der Freizeitgestaltung aufgesucht werden.

      Für die Begleitung bedeutet das: Vorgeben und Supervision von Leitlinien für alle Bereiche des Alltags; zunehmend können Entscheidungsalternativen angeboten werden, um Ambivalenz zu vermeiden.

       Orientierung ohne Gruppenführung

      •Im sozio-emotionalen Lebensalter von 7 bis 12 Jahren (SEO V) entfaltet sich dann immer deutlicher die soziale Autonomie des Einzelnen – des Kindes in der Präpubertät bzw. des Menschen mit Unterstützungsbedarf, der vor dem Hintergrund dieser Entwicklungsphasen verstanden werden kann. Jetzt gelingt zunehmend auch eine anfängliche Orientierung ohne Gruppenführung. Der Betreuer als Ansprechpartner ist erreichbar bei Krisen, ambulante soziale Betreuung wird möglich, alltagsübliche Situationen können selbstständig bewältigt werden.

      Individuelle Überforderung ist oft eine Grundlage von herausforderndem Verhalten. Die Kenntnis der hier skizzierten Stufen bzw. der phasenspezifischen Beziehungsbedürfnisse kann eine wesentliche Hilfe sein, Überforderungen zu vermeiden. Dies umso mehr, als sowohl in Wohngruppen wie in Werkstätten prinzipiell Menschen unterschiedlichster sozio-emotionaler Entwicklung leben. Eine genauere Kenntnis dieser Stufen ermöglicht die je spezifische Ansprache.

       Überforderungen vermeiden

      In der Sozialtherapie wird oft von »dem Erwachsenen« gesprochen, dem Menschen, der »jetzt erwachsen geworden ist«. Der hier skizzierte Ansatz ermöglicht es, dies differenzierter zu sehen und den Aspekt der Assistenz bzw. des Unterstützungsbedarfes adäquater an die individuellen Möglichkeiten anzupassen. Überforderungen als ein möglicher Ausgangspunkt seelischer Erkrankungen können auf diese Weise besser vermieden werden.

      Das Konzept des emotionalen Alters (SEO) ersetzt nicht die psychiatrische Diagnose, aber es ermöglicht einen entscheidenden Zugang zu einem adäquaten und fördernden Milieu, das von dem Betroffenen gut bewältigt werden kann. Im heilpädagogischen und vor allem im sozialtherapeutischen Alltag scheint mir dies unverzichtbar zu sein.

      Eine Ergänzung noch: Der Heilpädagogische Kurs Rudolf Steiners beginnt fast unmittelbar mit diesen Worten: »Es ist ja natürlich, dass vorangehen soll bei jedem, der unvollständig entwickelte Kinder erziehen will, eine Erkenntnis, eine wirklich eindringliche Erkenntnis der Erziehungspraxis für gesunde Kinder.«14 Mir scheint, dass mit dem SEO-Konzept ein sehr hilfreicher Ansatz entwickelt wurde, um diese »eindringliche Erkenntnis der Erziehungspraxis für gesunde Kinder« in einen praktikablen und objektivierbaren Zugang zu Menschen mit Assistenzbedarf zu überführen.

      Thomas, jetzt 36-jährig, ist mir seit seinem 15. Lebensjahr bekannt. Hintergrund ist eine chromosomal geprägte Konstitution in Form eines Fragilen-X-Syndroms; außerdem besteht eine Autismus-Spektrum-Störung. Die psychiatrische Symptomatik zeigte, zunehmend etwa seit seinem 18. Lebensjahr, ein ausgeprägt herausforderndes Verhalten mit schweren Unruhe- und aggressiven Zuständen in Form von selbst- und fremdverletzendem Verhalten. In der Gestaltung des therapeutischen Milieus wurde auf die besondere Situation vieler Menschen mit einem Fragilen-X-Syndrom Rücksicht genommen: hohe Verletzbarkeit und Verunsicherbarkeit bei ausgeprägt hoher Empfindsamkeit und Sensibilität. Dies bedeutet weiter: im Umgang Verzicht auf zu direkte Ansprache, weitgehender Verzicht auf emotionale Ansprache, insgesamt ruhige Sprachführung, ruhige Gesten, Schaffen von Nischen und Rückzugsmöglichkeiten.

      Nachdem eine zunehmende Stabilisierung erreicht wurde, orientierte sich die Beziehungs- und Milieugestaltung am SEO II: Unter fortgeführter Beachtung der Bezugspflege wurde die Frequenz der Kontaktzeiten ausgedehnt. In Situationen von Anspannung wurde Kontakt angeboten. Die Werkstattbetreuung wurde weiter im fördernden Bereich durchgeführt.

      Etwa ab dem 25. Lebensjahr wurde, bei weiterer Stabilisierung und Nachreifung, die »motivationale Ebene« (analog SEO III) verfolgt. Im Einzelnen hieß dies: Ermöglichung und Berücksichtigung


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