Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus


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Bejahung der Bedingungen

      Die Fähigkeit jedes Einzelnen, sich belastenden, herausfordernden oder auch widrig erscheinenden Bedingungen des eigenen Lebens zu stellen, kann entscheidend sein. In der Möglichkeit der Anerkennung und vielleicht auch der Bejahung der Bedingungen liegt eine unerschöpfliche Kraft. Damit ist in keinem Fall ein resignatives Hinnehmen gemeint im Sinne von »Ich kann ja sowieso nichts daran ändern«, sondern die Befähigung, sich innerlich aktiv den gegebenen Bedingungen zu stellen, soweit wir sie nicht zu verändern vermögen. Das Wort »Schicksalsakzeptanz« mag diesen aktiven Prozess beschreiben. Oder wie es der schon schwer erkrankte Dichter Christian Morgenstern in seinem Tagebuch festhielt: »Kein Augenblick ohne ein Ja!«4

       das eigene Schicksal finden

      Es ist die vorrangige ärztliche wie therapeutische Aufgabe, dem anvertrauten Menschen zu helfen, »sein Schicksal« zu finden. Und Krankheit verhindert nicht dieses Schicksal – sondern ist Teil desselben!

      Menschen mit Assistenzbedarf brauchen im tiefsten Sinne dieses Wortes gerade hier Unterstützung, bis hin zur Eröffnung neuer und erweiternder Blickwinkel. Ich empfinde es immer wieder als tief berührend, wenn Menschen mit ausgeprägten kognitiven, neurologischen, motorischen oder auch anderen Beeinträchtigungen eine solche Schicksals- und damit Selbstakzeptanz ausstrahlen – und dabei häufig durchaus auch ansteckend wirken. Darin können uns diese Menschen oft ein leuchtendes Vorbild sein.

      Dies scheint mir wesentlich zu sein: Seelische Gesundheit ist stark mit der Bewältigung bzw. Akzeptanz der eigenen Biografie verbunden.

       belastete Persönlichkeitsentwicklung

      Die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Intelligenzminderung ist hier oft in einem besonderen Maße belastet. Viele der Betroffenen erleben schon früh eine geringe Akzeptanz und Wertschätzung, was oft zu Abwertungen und Ausgrenzungen führt und in der Folge zu einer ausgeprägten Fremdbestimmung. Das Selbstwertgefühl wird beeinträchtigt. Die gerade im Hinblick auf die eigene biografische Entwicklung so wesentliche Selbstwahrnehmung wird überschattet und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit eingeschränkt.

      Umso wesentlicher ist – gerade unter dem Aspekt einer gelingenden Biografie – das Bemühen um eine umfassende und anhaltende Förderung. Die Stärkung der Resilienz, der »seelischen Widerstandskraft«, aufbauend auf versichernde Bindung und ermutigende Beziehungsgestaltung, wird zum zentralen Anliegen heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Begleitung.

       Einzigartigkeit jeder Biografie

      Die Besonderheit und Unverwechselbarkeit jeder Biografie hat Viktor E. Frankl eindrücklich beschrieben: »Der Mensch muss sich auch dem Leid gegenüber zu dem Bewusstsein durchringen, dass er mit diesem leidvollen Schicksal sozusagen im ganzen Kosmos einmalig und einzigartig dasteht. Niemand kann es ihm abnehmen, niemand kann an seiner Stelle dieses Leid durchleiden. Darin aber, wie er selbst, der von diesem Schicksal Betroffene, dieses Leid trägt [oder darin begleitet wird, Anm. d.V.], darin liegt auch die einmalige Möglichkeit zu einer einzigartigen Leistung.«5

      Es gibt viele Wege, einen Zugang zur menschlichen Biografie zu finden, ihre Bedingungen zu verstehen und Lösungsmöglichkeiten zu erkennen. Ein für mich wesentlicher Zugang sind die einer Biografie zugrunde liegenden Rhythmen und inneren Bedingungen, wie sie der anthroposophisch orientierte Ansatz eröffnet.

       biografische Rhythmen

      Neben einem eigenen, inneren – vielleicht auch einsamen – Weg gibt es für die Entfaltung der Biografie noch übergeordnete Faktoren. In seiner anthroposophisch begründeten Menschenkunde beschreibt Rudolf Steiner diese Entwicklungsgesetze allgemeiner, überpersönlicher Art: neben anderen Rhythmen vor allem das Prinzip der Siebenjahresrhythmen (»Jahrsiebte«) und der »Mondknoten« (siehe das folgende Kapitel). Wer mit diesen Gedankengängen nicht bereits vertraut ist, kann sie unvoreingenommen auf ihre Plausibilität prüfen und die eigene Entwicklung und die nahe stehender anderer Menschen unter diesen Gesichtspunkten anschauen.

      In jeder einzelnen menschlichen Biografie existiert ein individueller Spielraum, der das Spannungsverhältnis zwischen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und individueller Ausprägung sichtbar werden lässt.

       Menschenkundliche Aspekte zur Biografie

       Die Jahrsiebte

       leibliche Reifung

      Hinter dem individuellen Schicksal kann neben anderen Rhythmen derjenige von Siebenjahres-Perioden mitprägend gesehen werden. In den ersten drei Abschnitten, bis zum 7., bis zum 14. und bis zum 21. Lebensjahr, erfolgt vornehmlich die leibliche Reifung, mehr oder minder »durch das Schicksal bestimmt«.

      Im ersten Abschnitt bzw. »Jahrsiebt« ist die Entwicklung von einem Aufnehmen und Nachahmen des Erlebten geprägt. Leitmotiv für den Erzieher gegenüber dem Kind kann hier die Stimmung sein: »Die Welt ist gut.«

      Vom 7. bis zum 14. Lebensjahr besteht bei einem Kind das Bedürfnis, die es umgebende Welt empfindend mitzuerleben, unterstützt durch die Stimmung: »Die Welt ist schön.«

      Im dritten Jahrsiebt steht dann ein zunehmend verstehendes Lernen der Bedingungen der Welt im Vordergrund, unterstützt durch die Stimmung: »Die Welt ist wahr.«

      Das vierte Jahrsiebt, vom 21. bis zum 28. Lebensjahr, lässt Menschen oft die Fülle der Möglichkeiten der Welt erleben: bis an Grenzen gehen, Freiheit und Verantwortung ausbilden, zunehmend lernen, eigene Urteile zu bilden, dabei aber zu frühe Festlegungen vermeiden, all das ist in dieser Lebensphase wichtig.

       28. Lebensjahr

      Eine besondere Bedeutung in der Biografie eines Menschen stellt das 28. Lebensjahr dar. Es wirkt oft so, als sei vieles von dem, was einem Menschen »geschenkt« wird, mit diesem Alter in gewisser Hinsicht abgeschlossen; jetzt muss das Leben stärker aus eigener Kraft bewältigt werden.

       weitere Jahrsiebte

      Im fünften Jahrsiebt, bis zum 35. Lebensjahr, hat sich oft ein konkreter Lebensort gebildet, man ist dann oft »niedergelassen«. Eine mögliche Verstrickung in äußere Verhältnisse kann hier die freie Entfaltung der Biografie beeinträchtigen. Freude an der Fähigkeit zu eigenen Leistungen und die zunehmende Übernahme von Verantwortung prägen diese Zeit.

      Im sechsten Jahrsiebt, vom 35. bis zum 42. Lebensjahr, stellt sich zunehmend die Frage, was wirklich wichtig ist – auch die Frage nach dem eigenen Wirksamwerden in der Welt. Sinnfragen tauchen vermehrt auf, vielleicht auch das Bedürfnis, über sich hinauszublicken und Neues zu wagen.

      Im siebten dieser Abschnitte, vom 42. bis zum 49. Lebensjahr, kann das Bedürfnis entstehen, die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erleben, vielleicht eine Erneuerung aus einer überpersönlichen Perspektive heraus zu suchen. Das Bestreben, Eigenes in die Welt zu stellen, kann vorherrschend werden.

      Im Jahrsiebt zwischen dem 49. und dem 56. Lebensjahr kann auch die Entwicklung und Förderung anderer wesentlich für einen Menschen werden; erworbene Kompetenzen möchten jüngeren Menschen zur Verfügung gestellt werden, Selbstlosigkeit kann zunehmende Bedeutung erlangen – vor dem Hintergrund einer wachsenden Fähigkeit, Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen.

      Im Lebensabschnitt vom 56. bis zum 63. Lebensjahr entsteht die Möglichkeit, den Blick zunehmend nach innen zu richten; ein bewusster Umgang mit Verzicht, eine wachsende Fähigkeit, »abschiedlich« zu leben, kann sich einstellen.

      In dem dann anschließenden Jahrsiebt vom 63. bis zum 70. Lebensjahr kann die Fähigkeit des »Sich-Schenkens« als tief befriedigend erlebt werden.

       Hilfe zum Verständnis der Entwicklung

      Selbstverständlich


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