Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus


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wahrzunehmen (zum Beispiel ein erstes eigenständiges Aufsuchen von Geschäften). Während er sich immer häufiger als »Ich« benennt, fällt ein zunehmendes Streben nach Peer-Groups auf, was aber wegen rascher Überforderung noch sehr begrenzt eingesetzt wird. Vermehrt bewegt er sich selbstständig zwischen vertrauten Sozialräumen.

      In seiner biografischen Entwicklung im fünften Jahrsiebt zeigte sich ein wachsendes Bedürfnis nach neuer Tätigkeit (im Sinne von: »Einen Platz im Leben finden«). Verbunden mit einer sichtbaren äußeren Unruhe drängte Thomas im Rahmen der Freizeitgestaltung zu einem zur Einrichtung gehörenden Café. Dort blieb er zunächst befriedigt am Rande, beobachtend am Geschehen Anteil nehmend. Immer stärker drängte er aber an den Platz hinter dem Tresen. Seit etwa einem Jahr ist er im Café tätig und dabei meist mit der Vorbereitung der Speisen beschäftigt. In ruhigeren Zeiten wächst er in die Service-Tätigkeit hinein, er bringt die Speisekarte und deckt ab. Vielleicht deutet sich hier auch ein Motiv des zweiten Mondknotens an (siehe Seite 30 ff.).

      Die einzelnen Ebenen durchdringen sich und können in ihren Auswirkungen letztlich nicht voneinander getrennt werden. Dennoch hilft die Orientierung an den Entwicklungsstufen, um die damit jeweils im Zusammenhang stehenden Bedürfnisse zu befriedigen. Nicht erwähnt sind hier weitere therapeutische Ansätze, insbesondere eine medikamentöse Behandlung wechselnden Ausmaßes mit Phytotherapeutika und Neuroleptika – Letztere mittlerweile stark reduziert – sowie längere kunsttherapeutische Interventionen.

      Über die Jahre konnte eine weitgehende Beruhigung insbesondere der aggressiven Tendenzen beobachtet werden. Daneben zeigt sich eine beeindruckende Festigung der Persönlichkeit, der Selbstwahrnehmung und des Selbstbewusstseins.

       Verbindung unterschiedlicher Konzepte

      Dieses Beispiel soll zeigen, wie im heilpädagogischen bzw. sozialtherapeutischen Alltag die unterschiedlichen Konzepte und Blickwinkel fruchtbar verbunden werden können – sie können sich gegenseitig tragen: zum einen die Berücksichtigung der Bedürfnisse, die aus der Autismus-Spektrum-Störung sowie der Konstitution des Fragilen-X-Syndroms resultieren, die dann durch die Beachtung der jeweiligen Stufen des emotionalen Alters ergänzt wird. Und letztlich ermöglicht die Betrachtung biografischer Motive, die sich in den Jahrsiebten wie den Mondknoten spiegeln, eine aufmerksam stützendfördernde Assistenz.

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       Diagnosefindung

      Wer vielmehr nicht von der ersten Stunde an und wer nicht auch in der kritischen Phase immer und unbeirrt das Positive, das Ganze und Heile, den »gemeinten Menschen« und seine geheime Gestalt im Auge hat und innerlich anspricht, der versäumt den entscheidenden Ansatz jedweder Menschenführung und -behandlung.

       Viktor E. Frankl

      Warum braucht es denn eine Diagnose?«, wird gelegentlich gefragt. Oder auch: »Ich will gar nicht wissen, was mein Klient hat – ich will ihn/sie unbelastet und unbeeinflusst kennenlernen.«

       Suche nach Zugang zum Wesen des anderen

      Ich kann die Haltung nachvollziehen, aus der das gesagt wird. Mitarbeitende in heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Einrichtungen wehren sich damit gegen die »Stigmatisierung«, den »Stempel«, als den sie eine Diagnosestellung oft erleben. Sie suchen häufig einen »geschwisterlich« unverstellten Zugang zu den Menschen, die ihnen anvertraut sind. Sie suchen einen Zugang zum Wesen des anderen, den sie begleiten und unterstützen wollen.

      Aber spricht das gegen eine Diagnose? Schließt eine Diagnosestellung eine respektvolle, achtungsvolle und unverstellte Begleitung aus?

       Wege eröffnen

      Der Begriff »Diagnose« kommt aus dem griechischen »dia-gnosis« und meint »genau kennenlernen« oder auch »durch und durch zu einer Erkenntnis kommen«. Eine wirkliche Diagnose will kein »Stempel« sein, sondern Betroffenen die richtige Unterstützung eröffnen. Eine Diagnose ist nicht etwas Abschließendes (»Jetzt weiß ich es«), sie will Wege eröffnen. Eine Diagnose will mein Verstehen der Situation des anderen mehren, sie will mein Verständnis für seine Person vertiefen.

      Eine Diagnose baut auf der Anamnese auf, auf der Kenntnis des Gewordenen, sie bezieht die Vergangenheit dadurch mit ein, sie will die aktuelle Situation vor diesem Hintergrund einordnen – vor allem aber ist sie etwas in die Zukunft Weisendes.

      Nur die richtige Diagnose führt zu einer adäquaten Therapie – und damit zu einer wirklichen Unterstützung Betroffener.

       Ebenen der Diagnostik

       Verdachts- oder Arbeitsdiagnose

      Der Weg zu einer Diagnose erfolgt in Schritten. Zunächst wird eine Verdachts- oder Arbeitsdiagnose erstellt. Je nach den vorherrschenden Symptomen werden mögliche zusätzliche Symptome erfragt oder aufgesucht, die die Verdachtsdiagnose erhärten könnten – oder entkräften. Auf dieser ersten Stufe ist absolute Offenheit gegenüber dem Ergebnis nötig.

      Mitarbeitern fällt auf, dass Erika, eine 41-jährige Bewohnerin mit mittelgradiger Intelligenzminderung, seit Herbstbeginn zunehmend in sich gekehrt ist, ein größeres Rückzugsbedürfnis zeigt, gelegentlich weinend erlebt wird und in der Werkstatt deutlich antriebsgemindert erscheint. Die Nachfrage bei früher in der Gruppe tätigen Mitarbeitenden und den Eltern bestätigt (neben anderen Ausschlussfaktoren, siehe unten) den Verdacht einer saisonalen Depression, die auch schon in Vorjahren manifest war. Dies öffnet den Weg in eine milde, pflanzlich orientierte Therapie, ergänzt durch eine Lichttherapie, die dann auch in den Folgejahren, schon vorbeugend, über die Herbst- und Wintermonate durchgeführt wird.

      Andreas, ein 46-jähriger Bewohner mit Fragilem-X-Syndrom, zeigt, bei ihm bisher unbekannt, erhebliches sachaggressives Verhalten, zunehmend auch verbale Aggressionen. Bei weiterer Nachfrage treten zusätzliche Symptome zutage: Rückzugstendenzen, nachlassende Leistungsfähigkeit in der sonst geliebten Werkstatt, ein zunehmender Appetitverlust mit Gewichtsabnahme. Es stellt sich heraus, dass die veränderte Situation einige Wochen nach dem Auszug seines Bruders in eine andere Wohngruppe eingetreten ist. Nachdem weitere diagnostische Möglichkeiten ausgeschlossen wurden, kann die Diagnose einer Depression gestellt werden, was den Weg in eine unterstützende Therapie öffnet.

      Werner, ein 25-jähriger Bewohner mit Zustand nach frühkindlicher Hirnstörung, erscheint den Mitarbeitenden zunehmend »wesensverändert«. Er zeigt Verhaltensweisen, die bei ihm bisher unbekannt waren, vor allem in Form einer ausgeprägten Reizbarkeit und Zurückweisung. Er wirkte in immer stärkerem Maße »nicht einfühlbar« für die Mitarbeitenden. Bei einer weiteren Beobachtung über die nächsten Wochen unter Einschluss der Werkstatt und der Familie fielen weitere Symptome auf: zunächst ein eingeschränkter Schlaf sowie nächtliches Umherirren, außerdem Selbstgespräche. Auf vorsichtige Nachfrage erläutert er, dass »jemand zu ihm spricht«. Aus seinem Verhalten wird immer mehr ersichtlich, dass er sich beobachtet, zunehmend auch bedroht fühlt.

      Nach der Abklärung beispielsweise möglicher körperlicher Ursachen (siehe den Abschnitt über die Differenzialdiagnose, Seite 46 ff.) kann die Diagnose einer Psychose gestellt und eine entsprechende Therapie eingeleitet werden.

       Wahrnehmung der Begleitenden

      Die Wahrnehmungen der Begleitenden, auch der Angehörigen ergänzen die Wahrnehmungen des Arztes entscheidend. Der Arzt hat oft nur einen sehr begrenzten Einblick


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