Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus


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um erkennendes Verstehen bemühte Diagnostik zum Wesen des anderen vordringen möchte, umso tiefer setzt dies eine eigene Vorbereitung voraus. Im Sinne einer »Erweiterung« geht es bei der hier gemeinten Vorbereitung um eine Entwicklung und Ausbildung meiner eigenen seelischen Fähigkeiten, der vertieften Persönlichkeitsentwicklung des Heilpädagogen bzw. der Sozialtherapeutin. Rudolf Steiner hat einen solchen Weg der »Selbsterziehung« an verschiedenen Stellen seines Werkes ausführlich beschrieben.18 Im Einzelnen sind dies hier die Erkenntnismöglichkeiten, die in stufenweiser Folge mit den Begriffen »Imagination«, »Inspiration« und »Intuition« umschrieben werden. Letztlich beschreibt dies Stufen eines immer vertiefteren Vordringens in einen geistig-spirituellen Bereich.

       tieferes Verbundensein

      Das Besondere dieses erweiterten diagnostischen Zugangs ist, dass es den Untersucher bzw. Begleiter und den anderen auf der jeweiligen Ebene tiefer verbindet: Der andere bleibt nicht nur ein beschreibbares Gegenüber, sondern ich weiß mich ihm in den tieferen Ebenen meines Menschseins verbunden.

       Meditation und künstlerische Tätigkeit

      Ermöglicht wird dieser Zugang zum einen durch eigenes spirituell-meditatives Bemühen, zum anderen ist es auch die künstlerische Tätigkeit, die hilft, entsprechende Wahrnehmungs-»Organe« zu entwickeln. Es ist ein Anliegen anthroposophisch orientierter Ausbildungsstätten, diesen künstlerischen Ansatz zu fördern.

      Im engeren Sinn entwickelte Rudolf Steiner diesen erweiterten Ansatz in dem zum Ende seines letzten Wirkensjahres 1924 gehaltenen Heilpädagogischen Kurs.19 Dieser baut auf seinem in den vorangegangenen Jahrzehnten kontinuierlich ausgearbeiteten Modell einer »Menschenkunde« auf.

      Zentrale Ansatzpunkte eines solchermaßen diagnostischen und damit auch erweiterten therapeutischen Zugangs sind folgende Ebenen:

      •die dreigliedrige menschliche Organisation,

      •die viergliedrige menschliche Organisation,

      •polare Krankheitstendenzen und das Bedürfnis nach Ausgleich,

      •die psychische Auswirkung der funktionellen Organtätigkeit.

       Zugänge zur dreigliedrigen menschlichen Organisation

       »Systeme« der menschlichen Organisation

      Die Gliederung der menschlichen Organisation in drei unterschiedliche »Ebenen« bildet einen zentralen Ansatz Rudolf Steiners Menschenkunde ab. Sie stellt ein Nerven-Sinnes-System (NSS) einem rhythmischen System (RS) und einem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System (SGS) gegenüber. Dabei umfasst das NSS neben seinem vorrangigen Pol des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark) alle auf neuronalen Strukturen fußenden Bereiche. Das RS beschreibt vorrangig die Bereiche im mittleren Menschen – in erster Linie die Herz- und Lungentätigkeit mit dem entsprechenden Puls- und dem Atemrhythmus, aber auch alle anderen rhythmischen Vorgänge im Organismus. Der dritte Bereich, das SGS, schließt alle Bereiche im Organismus ein, die der Tätigkeit dienen, also die Glieder, aber auch alle dem Stoffwechsel dienenden Organe.

       Grundlage seelischer Prozesse

      Rudolf Steiner führt im Zusammenhang mit diesem wesentlichen und originären menschenkundlichen Ansatz aus, wie diese unterschiedlich gegliederten Bereiche des menschlichen Organismus Grundlage differenzierter seelischer Prozesse sind: Unser Denken, also die bewusste, reflektierende Auseinandersetzung mit der Welt, stützt sich auf das NSS; die ihm angegliederten Sinnesorgane, unser Fühlen, fußt auf dem RS; mit dem SGS werden wir tätig, es dient unserem Willen, unserer Handlungsfähigkeit. Der Fähigkeit des wachen Bewusstseins im NSS steht eine eher dem Traum ähnliche Bewusstseinslage im RS gegenüber; die Vorgänge im SGS sind uns, ähnlich denjenigen während des Schlafes, nicht bewusst.20

      Ein weiterer Bezug wird formuliert: Das Denken richtet sich am Gewordenen, an der Vergangenheit aus; mit dem Gefühl stehen wir in der unmittelbaren Gegenwart; mit dem Willen wenden wir uns dem zu, was werden will, der Zukunft.21

       Gleichgewicht der Kräfte

      Das Bemühen um ein jeweils individuelles Gleichgewicht dieser Kräfte ist zentrales Anliegen von anthroposophischer Pädagogik und Medizin.

      Michael, bei der Aufnahme acht Jahre alt, verhält sich ausgeprägt ängstlich und unruhig. Er ist ein Kind, das zu früh mit zu viel konfrontiert wurde – mit mehr, als es verarbeiten konnte –, und das dabei alleingelassen wurde. So leidet Michael an einer komplexen Traumatisierung. Durch zu früh erzwungenes »Aufwachen« lebt er stark im Nerven-Sinnes-Bereich.

      Der therapeutische Ansatz sucht den Ausgleich, die Stärkung der Stoffwechsel-Gliedmaßen-Region; Ziel ist es, Michael zu helfen, mehr in seinen Leib, »zu sich« zu kommen, also durch eine Stärkung dieser Funktionen die Überwachheit in der Nerven-Sinnes-Region zu beruhigen.

      Zugang wird zunächst durch eine Haltung gesucht, die in allem ausdrücken möchte: »Es ist gut, du musst keine Angst haben, ich bin da!« Dies wird verstärkt durch die Prinzipien einer sicheren Bindung, d.h. Verzicht auf Willkür, Schaffen von Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit. Weiterhin werden Maßnahmen zur Beruhigung der Sinnesfunktionen vorgenommen, unter anderem, indem der Gebrauch von Medien stark eingeschränkt und die Sinneseindrücke generell begrenzt werden. Hinzu kommt eine Stärkung des Stoffwechselbereichs durch Wärmung, enstsprechende Ernährung, Massage, heileurythmische Übungen (vor allem »B« und »A«) oder Substanzen mit dem Schwerpunkt Silber und Bryophyllum.

      In jahrelanger Begleitung wich die Angst einer wachsenden Sicherheit. Mit dem Ausgleich der beiden Pole stärkte sich auch der mittlere, der »rhythmische« Bereich: Der Schlaf vertiefte sich, die zunächst hohe Pulsfrequenz beruhigte sich, ebenso die Atemfrequenz. Die Fähigkeit zur Ausdauer, die Aufmerksamkeitsspanne, nahm deutlich zu.

       Zugänge zur viergliedrigen menschlichen Organisation 22

       physischer Leib

      •Das Prinzip des viergliedrigen menschlichen Organismus beschreibt – von außen betrachtet – zunächst den formbaren, gestalteten, tastbaren Leib (»physischer Leib«).

       Ätherleib und Lebensprozesse

      •Dieser ist von Leben durchzogen, in ihm finden Prozesse von Ernährung, Absonderung, Regeneration und Wachstum statt; weiter erhalten ihn Atmung und Wärmung lebendig. Die Gesamtheit dieser Lebenskräfte wird auch »ätherischer Leib« genannt. Von besonderer Bedeutung in der Begleitung vor allem von Kindern mit einem heilpädagogischen Hintergrund ist die Kenntnis der sogenannten sieben Lebensprozesse – gewissermaßen eine Differenzierung der oben genannten Lebenskräfte. Diese umfassen die Prozesse der Atmung, der Wärmung, der Ernährung und Absonderung, der Erhaltung, des Wachstums und der Reproduktion.

       astralischer Leib

      •Zusätzlich ist der menschliche Organismus »beseelt«, in ihm leben Stimmungen, Affekte, Begierden, Triebe, Freude, Schmerz, Spannung wie auch Entspannung (»astralischer Leib«).

       Ich

      •Und er ist getragen und durchdrungen von einer unverwechselbaren Individualität, einem Wesenskern – von einer Instanz, die bemüht ist, die Ausgestaltung des eigenen Lebens an inneren Werten auszurichten (»Ich«).

      Diese vier Bereiche des menschlichen Organismus werden auch Wesensglieder genannt.

      Timo war bei der Aufnahme in Schule und Internat ein zehnjähriger Junge, dessen Verhalten stark von plötzlich einschießenden Stimmungen und Impulsen geprägt war. Eine große Unruhe umgab ihn, die Aufmerksamkeitsspanne war bei hoher Ablenkbarkeit


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