Nur ein Viertel Elfenblut. Wolf Awert
diesen Ort wahrscheinlich Niemandsland genannt. Doch früher war früher, und die Zeiten hatten sich geändert. Seitdem die Menschen in alle Richtungen ausgeschwärmt waren, als hätte jemand mit dem Stock an einen Bienenstock geschlagen, gab es kein Niemandsland mehr. Jetzt ließen sie sich nieder, wo es ihnen gefiel. Staub und Asche! Konntet ihr nicht in eurer angestammten Heimat bleiben? Was habt ihr in unseren Wäldern zu suchen?
Vorwürfe machte er den Menschen nicht. Jedes Volk reagierte auf die Veränderungen der neuen Zeit auf seine ganz eigene Art. So auch das seine. Nur die Waldelfen waren bereit gewesen, Verantwortung zu übernehmen und hatten deshalb beschlossen, dass die Gesetze des Elfenlandes ab sofort und überall zu gelten hatten. Aber wohin hat uns das gebracht?, fragte er sich. Jetzt haben wir die Feinde im eigenen Volk und einen Krieg vor der Tür, den wir niemals werden gewinnen können. Und selbst wenn, ist unsere Welt deshalb noch lange nicht gerettet. Niemand kann eine Welt retten, die es sich vorgenommen hat zu sterben. Auch wir Elfen nicht.
Die letzten Schritte legte Sumpfwasser nun langsam, beinahe bedächtig zurück. Vor ihm befanden sich noch einige Büsche zwischen vereinzelten schlanken Bäumen, bevor das offene Land mit seinem steindurchsetzten Boden begann. Er bog ein paar Äste zur Seite, um besser sehen zu können. Nein, das war kein Ort, an dem ein anständiger Elf sich blicken lassen sollte. Was für ein Gestank! In einem Reflex des Abscheus verzog er das Gesicht, riss sich aber sofort wieder zusammen. Er war angekommen. Das allein zählte.
Weite und nur Dreck und Staub, weil unzählige Menschenfüße Gras und Kräuter zertrampelt hatten. Ein paar vereinzelte Hütten und Häuser. Am hinteren Rand einer freien Fläche ragte ein hässlich rotes Gebäude aus Stein empor, viel zu groß für diese Siedlung. Daneben verschiedene Baracken. Dort, wo das Gelände anstieg und es zu den Drachenbergen hinaufging, hatten die Menschen es gewagt, ein Loch in den Fels zu brechen, das sich mit jedem Tag tiefer ins Gestein hineinfraß und sich unter der Erde immer weiter verzweigte wie ein Baum, der den Himmel suchte. Wussten sie denn nicht, dass das Leben über der Erde lag und nicht darunter? Neben dem Loch, etwas abgelegen, befanden sich die Totsteinhalden. Gestein, das einmal den Boden getragen und als Teil des Gebirges einen Zweck erfüllt hatte, lag nun nutzlos herum, nachdem die Menschen ihm das Erz entnommen hatten.
Ich hasse euch Menschen. Euch und die Gestaltwandler. Weil ihr alle keine Achtung vor der Reinheit des Blutes habt.
Ein schneller Blick in den staubweißen Himmel verriet ihm, dass die Sonne bereits hoch stand. Er würde sich beeilen müssen, aber Lärm und Gestank lenkten ihn ab. Still waren nur die Kinder, die Mahlzeiten für die Bergleute in Richtung Schacht trugen. Aber diese Stille schenkte niemandem Ruhe. Es war nur eine kleine Stille, die sich nicht über den Mund hinaus traute. Wo die Ruhe fehlte, konnte Schönheit sich nicht niederlassen. Wie also sollten die Siedlungen der Menschen etwas anderes widerspiegeln als die versammelte Hässlichkeit aller Dinge? Sumpfwasser riss sich zusammen. Er war nicht hierhergekommen, um müßigen Gedanken nachzuhängen. Er war gekommen, weil …
Er flüsterte einen Namen und schickte ihn auf die Reise: „Tamalone“. Er war zu leise gesprochen, um gehört zu werden, und nicht mehr als der Träger seines Wunsches. Mit Elfenmagie verband er Wort und Wunsch zu einem Sehnen, das von selbst sein Ziel finden würde. Tamalone, so hieß das Mädchen. Oder war es eine junge Frau? Sumpfwasser schüttelte den Kopf. Zu viel Zeit war schon vergangen. Und so wenig hatte er erreicht.
Mitten in der Siedlung setzte ein Mädchen ihre beiden Wassereimer ab, ohne sich um die missbilligenden Blicke derer zu kümmern, die ihr nun plötzlich ausweichen mussten. Sie streifte sich die Lederriemen des Rucksacks von den Schultern, ließ ihre Last einfach dort fallen, wo sie stand und lauschte dem Wind. Hier war die Minensiedlung, in der sie alles kannte. Am Waldrand fing das Draußen an, das sie nichts anging, weil dort nichts war, das sie zu interessieren hatte. Aber heute war dort doch etwas. Der Wind brachte es mit. Etwas, das sie umhüllte, die Hitze vertrieb, den Staub bannte und würzig roch. Etwas das einen Namen trug. „Tamalone“. Nein, Tamalone war nicht der Name des Draußen. Tamalone war ihr Name – und ein Ruf.
Mit zunächst zögerlichen, dann festen Schritten begab sie sich zum Rand der Lichtung. Sie brauchte den Kopf nicht zu wenden, um zu wissen, dass sie beobachtet wurde, weil das immer geschah. Meistens ganz offen aus einem der Fenster des roten Hauses heraus. Ein Mann in dunkler Kleidung oder eine Frau. Manchmal standen sie auch zusammen dort, und er hielt sie im Arm. Beide arbeiteten für die Minengesellschaft und brauchten sich nicht zu verstecken. Mehr wusste sie von ihnen nicht.
Sie hatte die Stimme erkannt, obwohl sie keinen Klang hatte, alle Ohren umging und sich direkt in die Köpfe begab, die ihr Einlass gewährten. Die Stimme gehörte einem Elfen, der bereits vor vielen Jahren in ihr Leben getreten war. Der bloße Gedanke daran ließ sie erschaudern, denn Elfen hatten Macht über Menschen. Die Männer über die Frauen und die Frauen über die Männer. Elfencharme wurde dieser Zauber genannt, obwohl er mit Charme wenig zu tun hatte und eher einem Fluch ähnelte. Er war reine Magie. Man konnte von Glück sprechen, dass die Elfen ihre Macht nur selten ausübten, aber allein ihre Gegenwart genügte, um von dieser Magie berührt zu werden. Der Elf, der sie rief, war nicht mehr jung. Sein Charme war bereits zerbrochen, sein Liebreiz zerkratzt. Wollte er sie an sich binden, musste er mehr tun, als nur da zu sein. Doch dagegen war sie gewappnet, weil sie immer noch auf Mutters Hilfe zählen konnte: „Trau keinem Mann und schon gar keinem Elfen.“ Auch Mutters Stimme war voller Magie und voller Kraft. Ja, Mutter besaß sehr viel Kraft.
Sumpfwasser sah Tamalone herankommen, erkannte den für einen Menschen außergewöhnlich geschmeidigen Gang, das beleidigend helle Haar, in dem er nur Spuren von Elfenfarbe wiederfand, und erschrak, als er sah, was sie am Leib trug. Wams, Hosen, Stiefel. Alles aus Leder. Ohne Zweifel Rehleder, gut gewalkt und deshalb sehr weich. Menschenhände konnten das nicht geschneidert haben. Hier, wo die Minengesellschaft das Sagen hatte, war das eine völlig unangemessene Kleidung. Hatte er nicht Unauffälligkeit angeordnet? Sie gehört nicht zu den Menschen, dachte er. Sie ist unrein und gehört nirgendwo hin als dorthin, wohin man sie lässt. Aber musste sie deshalb ihre Andersartigkeit so deutlich betonen? Er suchte am Halsansatz, an den Handgelenken, in den Umrissen der Falten nach Spuren eines Unterkleides. Aber er fand nur Leder. Offensichtlich trug sie das Leder auf der Haut wie eine Jägerin des Elfenvolkes. Staub und Asche! Sie war keine Elfe. Sie war ein Mensch mit ein paar Tropfen Elfenblut. Höchstens eine Viertelelfe. Oder ein Dreiviertelmensch. Da sollte sie sich besser in der Menge verstecken. Obwohl … Wer konnte schon sagen, was die Zukunft mit ihr vorhatte? Sumpfwasser trat aus seiner Deckung hervor.
„Ich bin hier, Tamalone.“
Tamalone musste zweimal schauen, bis sie gegen den Waldrand erkennen konnte, was Elfe war und was Ast, was zur Kleidung, zum Haar oder zum Blätterwerk gehörte. Wie gelang es den Elfen nur, immer wie ein Teil des Waldes auszusehen?
„Meine Freunde nennen mich Tama“, sagte sie leise und ganz ruhig. „Wenn Ihr mögt, könnt Ihr mich ebenfalls so nennen.“
„Du hast Freunde hier?“
Da lag ein unmissverständlicher Vorwurf in der Stimme, der sie mehr schmerzte als ein aufgeschürftes Knie. Warum sollte sie keine Freunde haben? Aber der Elf hatte recht. Freunde hatte sie hier nicht gefunden. Nur einmal. Beinahe. Einen Jungen mit goldenen Augen. Aber der war viel jünger gewesen als sie, und sie hatte ihn nach ihrer ersten Begegnung nie wieder gesehen.
„Weißt du noch, wer ich bin? Erinnerst du dich noch an die Frau, die dich aus dem Wald heraus und an diesen Ort gebracht hat?“
Tamalone hob den Blick. Der Elfencharme zupfte an ihr herum und ließ sie vorsichtig werden. „Mutter, hilf“, dachte sie und errichtete eine Mauer um sich, die der Schönheit des Elfen den Zauber entzog. Es fiel ihr leichter, als sie erwartet hatte. Aber sie musste sich doch eingestehen, dass sie trotz Mutters Hilfe für den verfluchten Elfencharme anfällig war. Warum gab es so etwas, das niemand haben wollte und keiner gebrauchen konnte? Die Menschen litten unter ihrer unerfüllten Sehnsucht, und die Elfen litten unter den unerwünschten Nachstellungen der Menschen. Kein Wunder, dass die Elfen die Menschen mieden und sich jede Annäherung verbaten. Doch ganz selten, hin und wieder …
Tamalone kniff