Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek. Christopher Ross
»Fitnesscenter brauchen wir hier nicht«, erwiderte Julie, »wir haben Natur genug. Jedes Mal, wenn ich mit meinen Hunden losziehe, denke ich, wir sind im Paradies gelandet. Wer hier nicht vor die Tür geht, ist selbst schuld.«
»Bei vierzig Grad minus?«
»So kalt wird es nur an wenigen Tagen. Im Winter sind es meist zwischen zwanzig und dreißig Grad minus, aber wenn man sich richtig anzieht, können die einem wenig anhaben. Ich bin auch im Winter die meiste Zeit draußen.«
Er nahm einen Schluck von seiner Limonade und blickte sie forschend an. Plötzlich war auch wieder dieser seltsame Ausdruck in seinen Augen, als würde er von irgendetwas getrieben. Um seinen Mund zuckte es nervös. »Ist es eigentlich schwer, auf Schneeschuhen zu laufen?«, fragte er unvermittelt.
»Ein wenig Übung braucht man dazu schon«, antwortete sie. »Das ist so wie beim Radfahren. Ein paarmal fällt jeder hin, bevor es einigermaßen klappt.« Sie wusste nicht so recht, was sie von dem Mann halten sollte. »Sind Sie deswegen nach Alaska gekommen? Um auf Schneeschuhen zu laufen?«
Er lächelte wieder. »Langlaufen kann ich nicht, mit einem Hundeschlitten kann ich auch nicht umgehen, und Snowmobile sind im Nationalpark nicht erlaubt, also werde ich mir wohl oder übel Schneeschuhe anschnallen müssen, wenn ich den Mount McKinley aus der Nähe sehen will. Ich habe mich für eine Schneeschuhwanderung angemeldet, am kommenden Wochenende.«
»Sie wollen nach Denali?« Elizabeth war mit dem Eintopf im Zimmer erschienen und hatte die Antwort von Jacobsen mitbekommen. »Dann wird Ihnen wohl Julie das Schneeschuhlaufen beibringen. Sie fängt morgen als Rangerin in Denali an.« Sie stellte die Schüssel mit dem Eintopf auf den Tisch. »So, und jetzt setzen Sie sich bitte! Es gibt Elcheintopf mit Kartoffeln.«
Jacobsen staunte. »Sie arbeiten als Rangerin? Am Mount McKinley?«
»Wir nennen ihn Denali«, verbesserte ihn Julie, während sie sich setzte, »wie die Indianer. Sogar den Nationalpark haben sie umbenannt, schließlich gehörte das ganze Land mal den Indianern.« Sie schob ihm die Schüssel hin. »Ich mache ein Praktikum im Park. Ob ich dauerhaft dort arbeiten kann, wird sich noch klären. Denali ist ein begehrter Park, da wollen viele Ranger hin.«
»Kommt man auf der Wanderung nahe an den Berg ran?«
Julie wartete, bis sich Elizabeth genommen hatte, und griff nach der Schüssel. »So richtig nahe kommen nur Bergsteiger an den Denali ran«, erklärte sie, »und auch die tun sich schwer. Der Berg mag nicht so hoch wie der Mount Everest sein, aber er kommt einem wesentlich größer vor, sagen die Bergsteiger, die am Himalaya gewesen sind, weil er wie ein einsamer Riese über der Alaska Range thront. ›Wie ein König im weißen Mantel‹, hat mal jemand geschrieben. Das Wetter dort oben ist unberechenbar, und selbst unterhalb des Berges wechselt es so schnell, dass man sogar im Sommer jederzeit von einem Schneesturm überrascht werden kann. Dann bleibt wenig Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.« Sie kam sich plötzlich wie eine Lehrmeisterin vor. »Nein, auf einer Wanderung halten wir Abstand zum Berg. Viel wichtiger ist, ob man ihn überhaupt sehen kann. Zurzeit sieht das Wetter gut aus.«
»Und bleibt hoffentlich so bis Samstag.« Er aß von dem Eintopf und nickte der Wirtin anerkennend zu, wandte sich aber gleich wieder an Julie. »Ich habe gelesen, die Wickersham Wall wäre die schwierigste Route auf den Berg.«
Julie kaute genüsslich. »Sie haben sich gut informiert, Mister Jacobsen. Ich habe in letzter Zeit auch viel über den Berg gelesen. Die Nordroute über die Wickersham Wall ist tatsächlich am gefährlichsten. Dort sind schon etliche Bergsteiger gescheitert, und manche sind in der Wand sogar tödlich verunglückt. Aber keine Angst, auf der Wanderung kommen Sie der Wand nicht allzu nahe. Auch ich habe sie nur einmal aus einem Hubschrauber gesehen.«
»Dann bin ich beruhigt«, erwiderte Jacobsen. Sein Lächeln wirkte diesmal aufgesetzt, als würde er Julie nur etwas vormachen, und sie fragte sich unwillkürlich, was einen Mann aus Chicago so am Mount McKinley interessierte. Hatte er geglaubt, die Wanderung würde auf den Gipfel führen? So naiv konnte er doch nicht sein, obwohl sie erst kürzlich einen Film über den Mount Everest gesehen hatte. Inzwischen stiegen sogar blutige Anfänger auf den Berg, auch weil Veranstalter mit dem falschen Ehrgeiz dieser Leute ihre Geschäfte machten, und im Fernsehen wurde alle paar Monate über den Tod eines dieser leichtsinnigen Abenteurers berichtet. Am Mount McKinley sorgten die Ranger dafür, dass nur erfahrene Bergsteiger auf den Gipfel stiegen.
»Warum interessieren Sie sich so für den Berg?«, fragte sie.
»Ich?« Die Frage schien ihn zu verwirren. »Ich hab mich schon immer für die Berge interessiert. Bevor meine Eltern nach Chicago zogen, wohnten sie in Montana an der kanadischen Grenze. Da gab es einige Berge, an denen man sich beweisen konnte. Mein Vater war ein begeisterter Bergsteiger, keiner, der sich an einen Achttausender wagte, aber auch kein Leichtgewicht. Leider kam er später bei einem Unfall ums Leben. Seitdem arbeite ich mich durch seine Bibliothek. Bei meiner Mutter stehen über hundert Bergsteigerbücher in den Regalen. Die Bücher über Alaska haben mir besonders gefallen. Der Mount McKinley wäre der gewaltigste Berg der Erde, steht in einem der Bücher, deshalb wollte ich ihn unbedingt aus der Nähe betrachten.«
Nach dem Essen rettete sich Julie, indem sie der Wirtin beim Abräumen half, und atmete erleichtert auf, als Jacobsen sich verabschiedete und in seinem Zimmer verschwand. »Ich dachte schon, der hört gar nicht mehr auf«, sagte sie leise. »Der klingt ja fast so, als wollte er den Denali besteigen. Das fehlte uns noch … ein Greenhorn aus Chicago, der sich in den Bergen verirrt. Bin ich froh, dass ich auf der Wanderung nicht dabei bin. Um Kindermädchen für so einen zu spielen, hab ich mich bestimmt nicht zu den Rangern gemeldet. Da bleibe ich lieber im Tal und kümmere mich um die Huskys.«
Um vier Uhr früh brach Julie auf. Sie stellte den Koffer mit den wenigen Habseligkeiten, die sie bei den Rangern brauchte, und die Plastikwanne mit den Lebensmitteln auf den Beifahrersitz ihres Pick-ups und blieb überrascht stehen, als Elizabeth im Morgenmantel aus ihrem Schlafzimmer kam und ihr eine Schachtel Pralinen und einen Umschlag in die Hand drückte. »Ich hab deinen Lohn nach oben aufgerundet, falls dich die Ranger an der kurzen Leine halten. Und die Pralinen sind aus der Schweiz … was ganz Besonderes.«
»Sie waren sehr gut zu mir, Elizabeth.« Julie umarmte die Wirtin und bedankte sich noch einmal, dann verließ sie das Haus und band ihre Huskys los. Sie warteten bereits ungeduldig, spürten natürlich, dass heute ein ganz besonderer Tag war, auch für sie. Julie lud einen Hund nach dem anderen in die vergitterten Verschläge, die auf die Ladefläche ihres Pick-ups geschraubt waren und ihn wie einen Camper aussehen ließen, nur dass in dem Aufbau keine Menschen, sondern Tiere wohnten. Den Huskys machten die engen Verschläge nichts aus. Sie wussten ganz genau, dass Julie sie bald wieder herauslassen würde und in der Freiheit eine besondere Belohnung auf sie wartete. Den Schlitten hatte Julie bereits am Abend auf den Aufbau geschnallt.
Auf der Straße nach Fairbanks begegnete sie keinem einzigen Wagen. Über Nacht waren einige dunkle Wolken aufgezogen, und es hatte leicht zu schneien begonnen, eher ein Vorteil für Julie, weil die Reifen ihres Pick-ups besseren Halt auf der ansonsten sehr glatten Straße fanden. Das Licht der Scheinwerfer spiegelte sich auf dem Schnee und vermischte sich mit dem blassen Licht des Vollmonds, der sich zwischen zwei Wolken geschoben hatte. Julie hatte kein Radio laufen, sie gehörte nicht zu denen, die ständig berieselt werden mussten, und konzentrierte sich lieber auf das Knarren der Scheibenwischer, das dumpfe Geräusch, das die Reifen im Neuschnee verursachten, und das Jaulen ihrer Huskys, die spürten, dass ein Ortswechsel bevorstand.
Auch Fairbanks lag noch wie ausgestorben unter dem nächtlichen Himmel. Die Straßenlampen bildeten helle Tupfer in dem Schneetreiben und ließen die Flocken wie glitzerndes Konfetti aussehen, und selbst auf dem breiten Highway waren nur vereinzelte Wagen zu sehen. Ein Räumfahrzeug kam ihr entgegen und schleuderte nassen Schnee gegen ihre Windschutzscheibe, traf wohl auch einige der Hunde, ohne dass sich einer der Huskys beklagte. Die Scheibenwischer brauchten einige Takte, um ihr wieder die volle Sicht zu ermöglichen. Zum Glück hielt sich das Schneetreiben noch im Rahmen.
In der Innenstadt blickte sie an dem klobigen Bau des Fairbanks Memorial Hospitals empor. Die Fenster der Operationssäle