Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek. Christopher Ross

Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek - Christopher Ross


Скачать книгу
sehen kann, finde ich den Berg noch beeindruckender und geheimnisvoller. Deshalb habe ich mich um eine Stelle im Denali National Park beworben. Ich halte jedes Mal hier, obwohl ich schon seit ein paar Jahren hier arbeite.«

      »Und wo warst du vorher?«

      »Yosemite«, antwortete die Rangerin, »unten in Kalifornien. Auch so ein Park, der sich vor Bewerbungen nicht retten kann, aber ich habe mich dort nie so richtig wohlgefühlt. Kalifornien ist nichts für mich. Ich bin in Alaska aufgewachsen und würde dieses Land für kein Geld der Welt eintauschen. Als die Stelle im Denali frei wurde, habe ich mich sofort beworben.« Sie lächelte zufrieden. »Meine Vorfahren stammen aus Deutschland, da gibt es überhaupt keine Berge, jedenfalls keine so hohen wie hier. Sie kamen während des Goldrausches am Klondike. Reich wurden sie nicht, aber das Land muss sie so fasziniert haben, dass sie hierblieben und einen Laden in Willow eröffneten. Ich bin in der Wildnis aufgewachsen, hier draußen fühle ich mich wohl.«

      »Mir geht es ähnlich«, stimmte Julie ihr zu. »Ich könnte nie in einer Stadt wie New York oder Los Angeles leben. Wir kommen aus Montana. Mein Vater war Chirurg an einem Krankenhaus in Billings, da lernte er auch meine Mutter kennen, die ebenfalls dort arbeitete. Doch als das neue Krankenhaus in Fairbanks gebaut und meinem Vater der Posten als Chefarzt angeboten wurde, zogen wir nach Alaska. Ich war damals zwölf. Das Beste, was mir passieren konnte, denn Huskys hatten es mir schon in Montana angetan, und ich nahm sogar an einem Rennen teil. Ich wurde Zweite. Auf einem Hundeschlitten fühle ich mich am wohlsten, deshalb habe ich mich auch für das Winterhalbjahr gemeldet. Es ist einfach wunderbar hier … wie in einem Märchen.«

      Sie fuhren auf die Park Road zurück und ließen ihren Huskys, die schon ungeduldig geworden waren, wieder freien Lauf. Im fahlen Licht des beginnenden Tages steuerten sie ihre Schlitten über die verschneite Straße, vorbei an weit ausladenden Fichten, deren Zweige unter dem Gewicht des Schnees weit nach unten hingen. Außer dem Scharren der Schlittenkufen war kaum ein Laut zu hören, nur manchmal drang das Krächzen eines Raben aus dem Wald. Ein Schneehase huschte durch den hellen Bodennebel ins Unterholz.

      Am Savage River lenkte Carol ihr Gespann zu einer Blockhütte, die zwischen den Bäumen kaum zu sehen war. Sie sicherte ihren Schlitten, begrüßte einen älteren und lahmenden Husky, der neben der Hütte im Schnee lag und dankbar winselte, als Carol ihm das Fell kraulte, und verschwand in der Hütte. Mit einem Eimer Hundefutter kehrte sie zurück. »Candy hat sich vor einem Jahr den rechten Vorderlauf gebrochen und kommt seitdem nicht mehr auf die Beine.« Sie füllte den Trog des Huskys, stellte den leeren Eimer ab und stieg auf ihren Schlitten. »Shorty sorgt dafür, dass es ihm gut geht.«

      »Shorty?«

      »Paul Short«, erklärte Carol, »einer unserer Ranger. Alle nennen ihn Shorty, obwohl er der zweitgrößte Ranger im Park ist.« Sie zog lachend den Anker aus dem Schnee. »Er hält die Stellung am Savage River und fährt jede Woche einmal zum Wonder Lake und nimmt dort am ›Projekt Vielfraß‹ teil. Einige Ranger beschäftigen sich mit dem Jagdverhalten dieser Tiere. Du lernst ihn sicher bald kennen. Ein wortkarger Bursche, der am liebsten allein ist, deshalb hat er sich auch freiwillig für den Savage River gemeldet.« Sie lachte wieder. »Woher sollte er auch wissen, dass er so bald Gesellschaft bekommt.«

      Julie zog fragend die Augenbrauen hoch, bekam aber schon bald eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Auf dem Campingplatz am Flussufer erhob sich ein orangefarbenes Zelt. Ein Mann und eine Frau hielten sich vor dem Zelt auf und waren gerade dabei, sich Schneeschuhe anzuschnallen.

      »Mike und Ruth Linaker, nehme ich an«, sagte Carol, als sie vor dem Zelt hielten. »Ranger Carol Schneider und Julie Wilson. Alles okay bei Ihnen?«

      »Alles okay«, bestätigte der Mann, ein drahtiger Naturbursche mit gebräuntem Gesicht und gewinnendem Lächeln. Beide waren um die dreißig, wirkten sehr sportlich und durchtrainiert und schienen daran gewöhnt zu sein, mitten im Winter bei arktischen Temperaturen in einem Zelt zu übernachten. »Wir üben gerade ein wenig für die Schneeschuhwanderung. Normalerweise sind wir auf Skiern unterwegs.«

      »Dann kann ja nichts schiefgehen.« Carol deutete auf die Schneeschuhe. »Das neueste Modell, nicht wahr? Sie kennen sich aus, das muss man Ihnen lassen. Stimmt es, dass Sie beide mal Profisportler waren? Abfahrtslauf?«

      Mike Linaker schnallte sich seinen zweiten Schneeschuh an. »Abfahrtslauf, Riesentorlauf, Slalom … alles, was bergab geht. Aber für die Medaillenränge hat es nie gereicht. Ruth war mal kalifornische Jugendmeisterin im Abfahrtslauf und hätte vielleicht die Qualifikation für die Olympischen Spiele geschafft, doch dann verletzte sie sich und eine andere nahm ihren Platz ein. Jetzt fahren wir nur noch zum Spaß und probieren auch andere Sachen aus. Auf Schneeschuhen waren wir bisher kaum unterwegs, aber wir werden noch fleißig üben bis Samstag, damit wir uns nicht blamieren. Übrigens … die Schneeschuhe stammen aus unserem Sportgeschäft in Sacramento. Von irgendwas muss man ja leben, nicht wahr?« Er lächelte schwach. »Wann geht es denn los?«

      »Am Samstag um sieben Uhr vor dem Murie Center«, antwortete Carol. »Wir kommen zwar später hier vorbei, aber es wäre besser, Sie würden sich auch dort einfinden, sonst müssten wir unsere kleine Ansprache zu Beginn der Wanderung zwei Mal halten. Julie und ich werden die Wanderung führen.« Sie blickte auf das Zelt. »Und vergessen Sie nicht Ihr schönes Zelt. Sie werden es brauchen. Wir werden drei Nächte in der Wildnis verbringen.«

      »Wir haben alles dabei, Ranger. Wer kommt denn noch mit?«

      »Eine Frau aus Oregon, zwei junge Männer aus Anchorage, professionelle Snowboarder, wenn ich mich nicht irre, ein gewisser Scott Jacobsen aus Chicago, und heute Morgen rief ein junger Bursche aus Fairbanks an, der will ebenfalls mit.« Sie wechselte einen raschen Blick mit Julie, ohne zu verraten, was er zu bedeuten hatte. »Ich hoffe, Sie haben ausreichend Proviant dabei.«

      »Alles, was man in der Wildnis braucht, Ranger.«

      »Am Samstag vor dem Murie Center. Pünktlich um sieben.«

      »Wir werden da sein, Ranger.«

      Wieder auf der Park Road, wartete Carol, bis Julie mit ihrem Schlitten aufgeschlossen hatte. »Der junge Mann aus Fairbanks hat übrigens nach dir gefragt«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Wie hieß er noch gleich?«

      »Josh Alexander?«

      »Josh Alexander … richtig! Er wollte nur auf die Schneeschuhwanderung mitkommen, wenn du auch dabei bist.« Sie lächelte wieder. »Ein Verehrer?«

      »Ach, was!«, beeilte sich Julie zu sagen. »Ich habe ihm aus der Patsche geholfen, das ist alles. Er war von seinem Hundeschlitten gefallen, und ich kam zufällig vorbei, konnte den Schlitten aufhalten und Josh von einem steilen Hang hochziehen. Jetzt denkt er wahrscheinlich, ich will was von ihm. Dabei ist er gar nicht mein Typ. Ich mag keine Angeber, und er ist ganz sicher einer. Kaum hatte ich ihn aus der Klemme befreit, hielt er sich schon wieder für den Größten.« Sie schnaubte unwillig. »Müssen wir ihn unbedingt mitnehmen?«

      »Dies ist ein freies Land«, erwiderte Carol amüsiert, »und ich kann ihm die Teilnahme nicht verbieten. Benimm dich professionell, dann kann dir gar nichts passieren. Schlimm wäre es nur, wenn du deine persönlichen Probleme mit in den Nationalpark bringen würdest. Das sieht der Super gar nicht gern.«

      Julie wirkte finster entschlossen. »Keine Angst! Das tue ich nicht!«

      Doch als sie weiterfuhren, blieb das Bild des jungen Mannes in ihrem Gedächtnis haften, und sie verspürte plötzlich ein seltsames Kribbeln in ihrer Magengegend, ein Gefühl, das sie schon beinahe verdrängt hatte, weil ihre Karriere ihr momentan am wichtigsten war. Julie konnte gerade alles brauchen, nur keinen aufdringlichen Freund, der ihr ständig auf der Pelle saß, sie bis in den Nationalpark verfolgte und ihre Aufstiegschancen zunichtemachte.

      Trotz allem konnte sie jedoch nicht leugnen, dass sich sein Lächeln und sein eindringlicher Blick immer wieder in ihre Gedanken stahlen. Und dann tat es gut zu wissen, dass sie ihn bald wiedersehen würde und er nur ihretwegen nach Denali kam.

      Mach dich nicht lächerlich, rief sie sich im gleichen Augenblick zur Ordnung, du kennst den Kerl doch gar nicht. Kaum hattest du ihn gerettet,


Скачать книгу