Dr. Daniel Classic 44 – Arztroman. Marie Francoise
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Es war eine große Hochzeit, die an diesem sonnigen Samstagvormittag in Steinhausen stattfand, und die junge Braut strahlte über das ganze Gesicht, als sie am Arm ihres frisch angetrauten Ehemannes die Pfarrkirche St. Benedikt verließ.
»Wer hätte gedacht, daß die Beate mal eine solche Partie machen würde«, raunte Amelie Hauser der Wirtin des Goldenen Löwen zu.
Amelie Hauser war die Besitzerin des hiesigen Gemischtwarenladens und hatte sich trotz der Konkurrenz durch den Supermarkt einen Großteil ihrer Kunden bewahrt – vor allem dadurch, daß sie stets über die neuesten Begebenheiten in Steinhausen und Umgebung bestens Bescheid wußte. Natürlich war sie schon von Berufs wegen ziemlich neugierig und hatte jetzt in Hermine Gruber die passende Gesprächspartnerin gefunden.
»Dem Zander wurde der Reichtum ja schon in die Wiege gelegt«, flüsterte die Wirtin des Steinhausener Gasthofes zurück. »Seinem Vater gehört eine Kaufhauskette, und wenn er mal stirbt, erbt der Günther alles.«
Amelie Hauser grinste boshaft. »Na, da hat die Beate keine so feudale Erbschaft vorzuweisen. Sie bringt statt Geld nur ein uneheliches Kind mit in die Ehe.« Dann schüttelte sie fassungslos den Kopf. »Daß ein Mann wie Günther Zander so eine überhaupt angeschaut hat…«
»Wo die Liebe hinfällt, da gedeiht sie.«
Die beiden Frauen fuhren erschrocken herum, als hinter ihnen so unerwartet die tiefe Stimme von Pfarrer Klaus Wenninger erklang. Jetzt sah er Amelie und Hermine mißbilligend an.
»Ich finde es gar nicht schön, wenn man in dieser herzlosen Weise über andere Menschen spricht«, tadelte er.
Die beiden Frauen erröteten tief, murmelten ein paar entschuldigende Worte und entfernten sich dann auffallend schnell.
»Nun, Hochwürden, haben sie zwei Ihrer Schäfchen wieder mal zurechtgewiesen?« fragte Dr. Robert Daniel, der die kleine Szene beobachtet hatte, mit einem amüsierten Schmunzeln.
»Schäfchen«, murmelte der Pfarrer, dann schüttelte er den Kopf. »Da würde mir schon eine passendere Bezeichnung einfallen, aber…« Er zuckte bedauernd die Schultern, dann warf er einen entschuldigenden Blick nach oben, was Dr. Daniel ein Lächeln entlockte. Der gute Pfarrer Wenninger führte seinen Titel eines Don Camillo von Steinhausen wahrlich zu Recht. Allerdings trug wohl gerade das zu seiner großen Beliebtheit bei.
»Sind sie auch zur Hochzeit eingeladen, Herr Doktor?« wollte der Pfarrer jetzt wissen.
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin eher zufällig hier. Ich habe das Grab meiner Frau frisch bepflanzt, und als ich den Friedhof verließ, fand ich mich plötzlich mitten in der Hochzeitsgesellschaft wieder.« Er sah sich suchend um. »Ist die kleine Anna-Lena nicht dabeigewesen?«
Pfarrer Wennninger seufzte tief auf. »Das ist ein Kapitel für sich, Her Doktor, und zwar leider ein ganz besonders trauriges.« Er schüttelte den Kopf. »Ich billige Beates Verhalten ganz und gar nicht, aber sie ist aus dem Alter, wo sie auf mich gehört hat, inzwischen längst heraus. Andererseits… vielleicht ist es für Anna-Lena besser, wenn sie die Hochzeit ihrer Mutter gar nicht mitbekommt. Es wird für sie schwer genug sein zu begreifen, daß der Mann ihrer Mutter nicht gleichzeitig ihr Vater ist.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich würde mich gern noch länger mit Ihnen unterhalten, Herr Dr. Daniel, aber ich glaube, das Brautpaar wartet nur noch auf mich.«
»Wir werden uns sicher bald mal wieder begegnen«, meinte Dr. Daniel und lächelte, weil er ahnte, was der wahre Grund für die plötzliche Eile des Pfarrers war – nämlich das bevorstehende Hochzeitsmenü. Gerade aufs Essen legte Hochwürden Wenninger immer allergrößtenWert.
Dr. Daniel sah der Hochzeitsgesellschaft nach, die sich jetzt auf den Weg zum Goldenen Löwen machte, dann schlug er den Heimweg ein.
Plötzlich erklang hinter ihm fröhliches Hundegebell und dazwischen ein helles Kinderstimmchen.
»Wastl! Wirst du wohl hierbleiben!«
Dr. Daniel drehte sich um und hielt die wuschelige Promenadenmischung, die ihn jetzt eifrig kläffend umrundete, am Halsband fest, dann sah er das Mädchen an, das atemlos auf ihn zugelaufen kam. Ihre langen, blonden Zöpfe flogen, und ihr zartes Gesichtchen war von der Anstrengung gerötet.
»Danke, Herr Dr. Daniel«, japste die Kleine. »Ich hätte nie gedacht, daß der Wastl so schnell laufen kann.«
»Ohne Hundeleine darfst du ihn nicht herauslassen, Anna-Lena«, erklärte Dr. Daniel, dann lächelte er. »Allerdings wäre Wastl sicher nicht mehr weit gelaufen. Er war wohl nur auf der Suche nach dem Herrn Pfarrer.«
Anna-Lena nickte eifrig. »Ja, wahrscheinlich.« Dann ging sie in die Hocke und schlang beide Arme um die liebenswerte Promenadenmischung. »Wenn ich Geburtstag habe, bekomme ich auch einen Hund.«
»So?« entgegnete Dr. Daniel, weil er sich gar nicht vorstellen konnte, daß Beate Zander ihrem Töchterchen einen Hund schenken würde. Bei Anna-Lena wurde ja sogar am Allernotwendigsten gespart, während Beate selbst sich beinahe jeden Wunsch erfüllte.
»Ja«, fuhr Anna-Lena ernsthaft fort. »Meine Mutti hat mich sehr lieb. Sie kauft mir alles, was ich mir wünsche. Erst gestern hat sie mir dieses Kleid geschenkt.« Sie ließ Wastl los, stand auf und drehte sich vor Dr. Daniel. »Ist es nicht hübsch?«
»Ja, Anna-Lena, es ist ein wunderschönes Kleid«, antwortete Dr. Daniel und fragte sich, ob die Sechsjährige wirklich nicht wußte, daß dieses Kleid nicht ihre Mutter, sondern Gerdi Schuster, die Haushälterin des Pfarrers, gekauft hatte, weil sie mit der kleinen Anna-Lena so großes Mitleid hatte.
»Meine Mutti kauft mir immer so viel«, behauptete das Mädchen. »Ich habe lauter hübsche Kleider im Schrank hängen, aber ich ziehe sie nur selten an, weil sie zum Spielen viel zu schade sind.«
In diesem Moment begriff Dr. Daniel. Anna-Lena wußte sehr wohl, daß ihre Mutter ihr nur selten etwas kaufte, und schon gar nichts Neues. Was sie erzählte, waren die unerfüllten Wünsche, die sie im Herzen trug. Dieses Kind sehnte sich verzweifelt nach Liebe… nach einer Liebe, die ihre Mutter nicht bereit war, ihr zu geben.
Sanft streichelte Dr. Daniel über ihr blondes Haar. »Komm, Anna-Lena, bringen wir Wastl nach Hause.«
Das Mädchen nickte. »Tante Gerdi wird sich schon Sorgen um ihn machen.«
»Nicht nur um ihn«, vermutete Dr. Daniel, »sondern vor allem auch um dich.«
Es stellte sich heraus, daß Gerdi Schuster tatsächlich schon in großer Sorge um das Kind gewesen war.
»Vor einer Viertelstunde haben Anna-Lena und Wastl im Garten getobt«, erklärte sie, und man sah ihr dabei die Aufregung noch an. »Als ich jetzt aus dem Fenster schaute, waren sie plötzlich weg.«
»Kinder können manchmal sehr schnell sein«, stimmte Dr. Daniel zu. »Ich erinnere mich da noch sehr gut an meine beiden. Als Stefan und Karina noch klein waren, sind sie mir mal in der Nähe des Waldsees ausgebüchst. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt vor lauter Angst um sie.«
Gerdi nickte. »Das kann ich mir vorstellen.« Dann beugte sie sich zu Anna-Lena hinunter. »Geh schon mal in die Küche, Kleines. Da steht eine Tasse Kakao für dich, und ein Stück Hefezopf mit Butter und Marmelade ist auch da.«
Anna-Lena leckte sich die Lippen. »Mhm, fein.«
Dr. Daniel und Gerdi sahen ihr nach, als sie in die Küche hüpfte.
»Armes Haserl«, meinte Gerdi leise. »Der Vater ist auf und da-von, und die Mutter…« Sie winkte ab.
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Ich kann Beate wirklich nicht verstehen. Anna-Lena ist so ein herziges Kind. Aber es scheint, als würde sie wirklich gar nichts für die Kleine empfinden. Schon während der Schwangerschaft war sie so nachlässig…« Dr. Daniel stockte. In seinem Mitleid mit dem kleinen Mädchen hätte er beinahe mehr gesagt, als ihm aufgrund seiner ärztlichen Schweigepflicht gestattet war.
Gerdi sah den Arzt an. »Was glauben Sie, Herr Doktor? Wird der junge Zander die Kleine adoptieren? Immerhin ist er jetzt ja mit Anna-Lenas Mutter verheiratet.«
Dr. Daniel seufzte.