Von der politischen Berufung der Philosophie. Donatella Di Cesare

Von der politischen Berufung der Philosophie - Donatella Di Cesare


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nicht sei, wonach sie strebten« (Politik, 1259a, 5-8).

      Damit wird – nach dem Zwischenfall des Brunnens – die Befreiung des Thales angedeutet, der sogar das vorherzusehen vermochte, was eigentlich unvorhersehbar sein müsste, himmlische wie irdische Phänomene, Sonnenfinsternisse und Olivenernten, und der seine Berechnungen vorübergehend auf die Logik der Wirtschaft übertrug, um aufzuzeigen, dass diese nicht derjenigen der Philosophie entspricht. Das heißt jedoch nicht, dass sich die Spannungen zu den Mitbürgern abgeschwächt hätten. Sie können sich im Gegenteil nur verschärfen, wenn die jeweiligen Werte derart gegensätzlich ausgeprägt sind. Die Philosophie mag womöglich eine nutzlose Beschäftigung sein, doch erweist sie sich als eine subversive Bedrohung für die Stadt.

       Die Atopie des Sokrates

      Sonderbar, verschroben, außergewöhnlich, befremdlich – vielleicht ein Fremder? Zweifellos erstaunlich, unbegreiflich, irritierend. Sokrates ist fehl am Platz, außerordentlich, außer Ortes. Das griechische Epitheton, das nur für ihn geprägt worden zu sein scheint, lautet: atopos.21

      Was aber bedeutet atopia? Im Phaidros bezeichnet das Wort die vom Unerwarteten und Unüblichen erzeugte Verstörung. Atopia ist nicht nur eine Seelenregung, sondern charakterisiert denjenigen, der bei den anderen Befremden und Verwirrung hervorruft. So erzählt Alkibiades, der im Gastmahl eigentlich von den denkwürdigen Taten des Sokrates berichten will, schließlich nur von dessen einzigartigen, wunderlichen, exzentrischen Zügen, die deshalb im Gedächtnis der Zeitgenossen und der Nachgeborenen geblieben sind.22

      Sokrates ist das personifizierte philosophische Staunen, das thauma schlechthin. Er zieht an und stößt ab, er fasziniert und beunruhigt. Die von ihm hervorgerufene Wirkung wird mit dem Biss einer »Natter« oder mit einem Stromschlag verglichen, wie der von einem »Krampfrochen« erzeugte, der jeden betäubt oder erstarren lässt, der sich ihm nähert und ihn berührt. Sokrates selbst bezeichnet sich als eine stechende »Bremse«.23 Nur wenige erholen sich von diesen Bissen, Stichen, Schlägen und Stößen. Die meisten wanken unter der Last des Traumas und halten frustriert, enttäuscht und gekränkt inne.

      Sokrates ist der Archetyp des Philosophen. Das bedeutet, dass die Philosophie von Beginn an höchst befremdlich und verfremdend wirkt. Sie ist nichts für jedermann. Sie besänftigt nicht, sie tröstet nicht, beruhigt nicht. Für einige ist sie unnütze Ablenkung und kindischer Zeitvertreib, während andere in ihr ein gefährliches Spiel erblicken, das betäubt, berauscht und in den Ruin treibt (vgl. Gorgias, 484c-486a). Sie ist nicht leicht zu erlernen. Was wäre das auch für eine Lehre? Im Unterschied zu den Sophisten sagt Sokrates, dass er nichts wisse. Es wird nichts mitgeteilt – nur ein Schlag versetzt.

      Sokrates ist außerörtlich, fehl am Platz, atopos. Mit ihm betritt ein neuer Menschentyp die Bühne der Geschichte: der Philosoph.24 Aufgrund seiner einzigartigen Rätselhaftigkeit, die von einer langen Reihe an Philosophen wieder und wieder interpretiert wird, gelangt er zu unsterblichem Ruhm, auch wenn er keine Schriften hinterließ. Er hat jedoch auch nicht geschwiegen; im Gegenteil, er begründete eine neue Gattung: den Dialog. Nach seinem Tod versuchten seine Schüler, die ihn bei der Befragung seiner vielfältigen Gesprächspartner in Erinnerung behalten wollten, den unwiederholbaren mündlichen Dialog in schriftlicher Form wiederzugeben. Von dieser sokratischen Literatur sind jedoch nur Fragmente erhalten geblieben.25 Zwei Quellen wurden hingegen nahezu vollständig und unversehrt überliefert: Die Werke Xenophons, insbesondere die Memorabilien, sowie die platonischen Dialoge. Es war Platon, der ergebene Freund, der loyale und beharrliche Anhänger, der treue, sich mit seinem Lehrer identifizierende Schüler, der feinsinnige Portraitist, der das Bild des Sokrates so stilisierte, dass aus ihm jener neue Menschentyp erwuchs. Der Sokrates, den die Weltgeschichte kennt, ist der Sokrates Platons.26

      Wo aber hört Sokrates auf, und wo beginnt Platon? Wie lassen sich mit Gewissheit die von dem einen ausgesprochenen von den vom anderen niedergeschriebenen Worten unterscheiden? Wann also legt Platon die Maske des Sokrates an? Das sind die Fragen, die die Gelehrten lange Zeit umgetrieben haben und die dazu bestimmt sind, ohne Antwort zu bleiben. Denn der entscheidende Punkt ist ein anderer. Sokrates ist der erste Philosoph; mit ihm beginnt die Philosophie.

      Was für ein seltsamer Anfang ist das aber, zwischen dem erschütternden Schlag, unbestrittenem Nichtwissen und der endlosen Aufeinanderfolge von Fragen über Fragen? Es handelt sich um ein Wissen, das sich auf ein Nichtwissen gründet. So beginnt die Philosophie – oder besser: beginnt sie auch nicht. Denn wie könnte man mit einer Frage beginnen, deren Voraussetzungen immer in etwas anderem liegen und die aus dem Nichtwissen entspringt? Die Philosophie lässt keinen Beginn hinter sich – sie würde einen guten Ariadnefaden abgeben. Mehr noch: Sie hebt jeden Beginn auf. Nicht im hegelschen Sinne der Aufhebung, sondern weil sie dessen Grund untergräbt. Jede archê ist daher an-archisch. Das, was mit Sokrates sozusagen beginnt, untersteht nicht der Ordnung einer archê. Es ist vielmehr eine innere Spannung, die sich vollziehende Teilung der Philosophie. Die beiden Figuren Sokrates-Platon – Platon-Sokrates lassen diese Aufspaltung anschaulich werden. Gerade deshalb wäre es allzu bequem und übereilt, aus Sokrates nur einen Mythos zu machen oder schlimmer noch: eine Fiktion. Man erinnere sich nur der Umkehrung, die in dem von Derrida in seinem Buch Die Postkarte kommentierten Bild aufscheint, auf dem ein kleiner Platon einem schreibenden Sokrates über die Schulter schaut.27 Diese Spaltung bedeutet für die Philosophie die Möglichkeit, zu überleben. Die Frage muss im Inneren der Antwort verbleiben, das Nichtwissen am Grund des Wissens. Die Philosophie steht stets auf der Kippe, wird von Verlust bedroht und von der Negation auf die Probe gestellt, die sie jedes Mal von Neuem zu verinnerlichen hat. Mit Sokrates erscheint sie als ein Gegengift, als pharmakon, als Heilmittel und Gift zugleich. Die größte Gefahr – so viel lässt sich bereits erahnen – drängt nicht von außen (von Sophisten, Meinungsmachern, Chronisten etc.), sondern aus der Philosophie selbst heran und ist in der Versuchung zu sehen, sich einseitig abzuschließen, um die ihr innewohnende sperrige Atopie loszuwerden.

      Sokrates durchstreift die das Gymnasium umgebenden Alleen, hält an den Tischen der Geldwechsler an, steuert sodann auf den Marktplatz zu, diskutiert mit einem namhaften Staatsmann, bleibt nochmals bei einigen Schmieden und Hutmachern stehen, um sodann unermüdlich weiterzuziehen. Was will er mit dieser Fragesucht bloß erreichen? Es scheint, als würde er alles andere einfach vergessen. Sommers wie winters ist er barfuß unterwegs, wie um den Schustern einen Streich zu spielen, stets in denselben zerschlissenen Umhang gehüllt. Ohne Unterlass pflegt er aufzuzählen, was er nicht braucht, und behauptet, nichts zu brauchen wäre göttlich und wenig zu brauchen nahe daran. Skurril ist auch sein Äußeres: hervortretende Augen, eine platte Nase, schwülstige Lippen. Er ähnelt einem Silen oder einem Satyr – wie Marsyas, der trotz seines Äußeren mit seiner Musik zu bezaubern wusste. Unter seinem stolzen, festen und konzentrierten Blick gelingt es auch Sokrates, mit seinen Reden zu betören. Es ist, als verlöre das alte Ideal der Vorväter, die kalogatia, für ihn, der zwar vielleicht etwas »Gutes« hat, agathon, ohne dass ihm dabei jedoch irgendetwas »Schönes«, kalon, anhaftet, an Bedeutung. Wüsste man nicht genau, dass er aus einer alten athenischen Familie stammt, wäre man geneigt, ihn für einen Fremden zu halten.

      Einige Mitbürger ergreifen die Flucht, wenn sie ihn in der Ferne erblicken, denn wer sich in eine Diskussion mit ihm verfängt, ist verloren. Andere halten ihn für einen Tagedieb und Taugenichts, sie äffen ihn nach, stellen ihre Verachtung zur Schau, verspotten und beschimpfen ihn; manche erheben gegen ihn gar die Hand. Welcher Sünden haben sich die Athener schuldig gemacht, um mit einem solchen Schwätzer gestraft zu werden? Der dabei noch derart lästig und pedantisch ist? Anstatt in der Werkstatt des Vaters weiterhin den Beruf des Steinmetzes auszuüben, treibt sich dieser wundersame Kopf herum, um lebhaft über unnütze Fragen zu diskutieren, verkehrt spitzfindig die Reden und dreht die Worte um. So zieht er zwischen zwei Scherzen die gängigsten Ideen in Zweifel, darunter auch diejenigen, bei denen alle ausnahmslos übereinstimmen, schwafelt vom Heiligen, erkennt keinerlei Autorität an, ja verspottet sogar den souveränen demos. Und nachdem er diese ganze Reihe von Problemen aufgeworfen hat, löst er kein einziges davon; im Gegenteil: Überheblich lässt


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