Eine Münze für Anna. Anne Gold

Eine Münze für Anna - Anne Gold


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Morath blickte nachdenklich in die Ferne. Sie wirkte in sich zusammengesunken.

      «Ich hatte es geahnt. Was … was kann man dagegen tun?»

      «Sie haben Glück im Unglück. Sie sind im Frühstadium zu mir gekommen. Ich möchte Sie an einen Spezialisten überweisen, der weitere Untersuchungen vornehmen wird. Ihre Heilungschancen stehen gut.»

      «Muss ich operiert werden?»

      «Ja, das ist unabdingbar und danach steht eine Chemotherapie an. Ich möchte, dass Sie sofort meinen Kollegen aufsuchen.»

      «Wie … was ist der Grund, dass ich Brustkrebs bekommen habe?»

      «Mit absoluter Sicherheit kann Ihnen das niemand sagen. Es gibt verschiedene Risikofaktoren. Rauchen, falsche Ernährung, zu viel Alkoholkonsum, mangelnde Bewegung, Übergewicht, Diabetes Typ II und auch Vererbung.»

      «Bin … bin ich danach entstellt?»

      «Wenn wir sofort reagieren, kann der Tumor vermutlich ohne grosse sichtbare Veränderung der Brust entfernt werden. Wichtig ist, dass wir nicht lange zuwarten.»

      «Es … es kommt so plötzlich … Krebs … Sind Sie wirklich sicher?»

      «Ja. Dagmar, ich weiss, dass Sie jetzt schockiert sind. Doch die Gewissheit hat auch Vorteile. Wir können jetzt rasch handeln.»

      «Ich … ich muss es mit Erwin besprechen.»

      «Das ist Ihr Mann?»

      «Er muss es wissen. Erwin und meine Eltern. Sie müssten auf meine Kinder aufpassen, wenn ich operiert werde.»

      «Selbstverständlich. Besprechen Sie es mit Ihrem Mann. Ich will Sie nicht drängen, aber ich möchte einen Termin mit meinem Kollegen vereinbaren. Er ist Experte auf diesem Gebiet.»

      «Ich rufe Sie heute gegen Abend an, nach meinem Gespräch mit Erwin.»

      Tina begleitete die sichtlich unter Schock stehende Patientin hinaus.

      «Wie nahm sie es auf?», erkundigte sich Sabine.

      «Schockiert, aber gefasst. Sie hat es erwartet.»

      «Was passt dir daran nicht?»

      «Ihre Reaktion. Sie will zuerst mit ihrem Mann darüber sprechen.»

      «Das ist doch ganz normal.»

      «Ja, schon. Ich bat sie zur Eile und wollte einen Termin mit Alex vereinbaren. Irgendwie wich sie mir aus. Es war, als ob sie es überhörte. Normalerweise sind meine Patienten sofort einverstanden und dankbar über meine schnelle Reaktion. Sie empfand es eher als störend, als Eindringen in ihre Privatsphäre.»

      «Bildest du dir das nicht bloss ein?»

      «Vielleicht. Wir werden sehen, ob sie wie versprochen gegen Abend anruft.»

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      Pfarrer Florian Christ öffnete mit einem Inbusschlüssel die Glasvitrine beim Seiteneingang des Gemeindehauses und drückte den Zettel mit den aktuellen Anlässen nach alter Väter Sitte an die Pinwand, denn nicht jeder informiert sich online. Unserem Informationskasten würde ein neuer Anstrich guttun, wie dem gesamten Haus. Mist! Der Zettel hängt schief. Florian rückte ihn zurecht und strich sich mit zitternder Hand durch die Haare. Die letzten Tage hatten deutliche Spuren hinterlassen. Wenn ich ehrlich zu mir bin, stimmt zurzeit einiges bei mir nicht. Mams Tod gab mir den Rest. Wie lange kann ich noch verbergen, dass mir alles über den Kopf wächst? Florian schloss die Vitrine und setzte sich vor dem Haus auf die Treppe. Eigenartige Situation, geradezu paradox. Täglich bitten mich Leute um Hilfe. Ich tröste sie, gebe ihnen gutgemeinte Ratschläge, an die ich selbst nicht glaube. Der Glaube, ein grosses Wort. Das Schlimmste ist, ich habe meinen verloren. In den vergangenen Tagen wurde mir das so richtig bewusst, als ich die Abdankungsrede fürs Münster und gestern die Beisetzung auf dem Hörnli verfasste. Stundenlang sass ich vor dem Computer, tippte Bibelsprüche zum Einstieg ein, verwarf sie immer wieder, um es erneut zu versuchen. Keiner war passend genug für den Schmerz, die Trauer und für die Wut, die ich mit Worten erfassen und von der Kanzel herabschreien wollte. Wieso traf es gerade meine Mutter? War sie durch ihre harte Kindheit nicht genug gestraft? Von den Eltern im Stich gelassen, wuchs sie im Heim als Aussenseiterin auf. Sie erzählte nur wenig, aber man spürte die tiefen Verletzungen. Wie in Trance verfasste ich schliesslich die Predigt und erschrak ob des Resultats. Es war eine einzige Anklageschrift gegen Gott, dem ich eigentlich mein Leben widmen wollte. Was war nur geschehen? Seit Monaten spürte ich eine zunehmende Verunsicherung. Zuerst dachte ich noch, der innere Sturm würde sich wieder legen, aber es war ein Irrtum, ein Selbstbetrug. Die Zweifel nehmen überhand, totale Verweigerung macht sich breit. Gleichwohl hielt ich im Münster eine flammende Rede. Wie ich mich für jedes einzelne Wort schämte, weil es nicht aus dem Herzen kam, sondern aus dem berechnenden Verstand. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um mit Gott abzurechnen. Ganz bestimmt nicht. Aber diese leeren Worte waren ein Verrat an Mam, ein unwürdiger Abschied. Nach Vaters Rede fühlte ich mich noch mieser, denn seine Worte sprühten von echter Liebe.

      Und, obwohl ich mir schwor, dass sich das nicht wiederholen würde, brachte ich auch auf dem Hörnli den Mut nicht auf, die Wahrheit herauszuschreien. Dass ich nicht an diesen Gott glaube, der seine Gläubigen peinigt. Ich muss das Ganze beenden, meinen Dienst für den Nächsten aufgeben. Ein Pfarrer, der nicht an das glaubt, was er verkündet, hat keine Berechtigung, sein Amt länger auszuüben. Die Gemeindemitglieder verdienen es, die Wahrheit zu wissen. Stöhnend erhob sich Florian. Seit Monaten ziehe ich eine billige Show ab, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass ich gescheitert bin. Mam wusste es, aber sie hielt sich zurück. Dabei war sie von Anfang an gegen meine Berufswahl. Nun ist es an der Zeit, die Konsequenzen zu ziehen und Veränderungen zuzulassen. Loslassen, die Wahrheit aushalten, zusammenbrechen, um nach einer gewissen Zeit neu aufzubrechen. Wohin weiss ich nicht. Wir werden es sehen. Traurig stapfte Florian ins Pfarrhaus zurück. Es werden mich nur wenige vermissen. Etwa Theodora, die endlich von der Nadel ist. Sie wird es schaffen. Sie ist eine starke Persönlichkeit, die nur einen Anstoss benötigte und jemanden, der an sie glaubte. Bei Leo habe ich Zweifel, seine Depressionen haben sich eher verstärkt. Ihm würde eine neue Beziehung guttun. Florian setzte sich an den Laptop und begann, seine Kündigung zu schreiben. Ein Querdenker weniger, meine Vorgesetzten werden die Korken knallen lassen. Die liessen mich sowieso nur machen, weil ich ein Christ bin und sie Grossvater und Paps fürchten. So verfrachteten sie mich nach Kleinhüningen, weit weg vom Schuss. Florian schaute sich in seinem Büro um. Ich werde dieses liebgewonnene Haus, die Menschen, die ihm Leben einhauchen, vermissen. Es war trotz allem eine gute Zeit.

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      «Was liegt an, Chef?»

      «Ich möchte am Wochenende mit meinen Kindern sprechen. Kannst du das bitte für mich arrangieren?»

      «Samstag oder Sonntag?»

      «Egal. Wann es ihnen passt.»

      «Ein Essen?»

      «Ja, Hannah wird kochen.»

      «Weshalb?»

      «Weil mir danach ist. Ich spüre, dass wir alle in der Luft hängen. Jeder auf seine Art. Wir müssen als Familie darüber sprechen und zusammenhalten. So hätte es Anna an meiner Stelle gemacht.»

      «Gut, wird organisiert.»

      «Du kommst auch.»

      Nicole sah Markus überrascht an.

      «Du gehörst zur Familie, ich akzeptiere keine Absage.»

      «Ich finde das keine gute Idee. Es gehört sich nicht, dass ich beim ersten gemeinsamen Essen nach dem Tod von Anna am Tisch sitze. Du willst die Trauer mit deinen Kindern aufarbeiten, da bin ich ein Störfaktor.»

      «Tina und Andrea wenden sich mit allen Problemen an dich, schütten ihre Sorgen über dir aus. Florian sucht bei jeder Gelegenheit deine Nähe.»

      «Bloss wir sprechen keine zehn Sätze miteinander.»


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