Einführung in die Theorie des Familienunternehmens. Fritz B. Simon
oder anderen Partner gehört, wird es doch wie gemeinsames Eigentum behandelt.
Je größer und je älter das Unternehmen wird, desto mehr entwickeln sich diese drei Spielfelder auseinander und umso stärker werden auch die Unterschiede zwischen ihren Spielregeln und die damit verbundenen Dilemmata erlebbar.
2.4 Identität und Zugehörigkeit
Der Blick auf Unternehmen und Familie als Kommunikationssysteme mit unterschiedlichen Spielregeln kann erklären, warum viele Menschen, die es mit Familienunternehmen zu tun haben, sich verwirrt fühlen. Denn nur zu oft sind ja die Personen, die in diesen beiden Systemen agieren, dieselben. Man sieht einem Menschen nicht an, ob er gerade als Vater oder als Vorgesetzter, als Mutter oder Chefin, als Bruder oder Mitarbeiter, als Schwester oder Teammitglied handelt, und der oder die Betreffende weiß es selbst meist auch nicht. Er/sie hat zwei Rollen inne, an die unterschiedliche Erwartungen gerichtet sind. Man trägt »verschiedene Hüte«, aber es ist nicht immer klar erkennbar, welcher Hut gerade von wem getragen wird, und manchmal werden beide so schnell gewechselt, dass niemand hinterherkommt …
Diese Vermischung der Kontexte hat psychische Folgen. Denn jedes Individuum bildet seine persönliche Identität aufgrund seiner Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Bezugssystemen (Devereux 1970). Ihre individuelle Mischung bestimmt sein Gefühl der Unverwechselbarkeit als Individuum.
Jemand definiert sich als Mann oder Frau, er ist Deutscher, Ingenieur, Katholik, Fußballspieler, Briefmarkensammler, Wähler einer bestimmten Partei usw., was dazu führt, dass er/sie bewusst oder unbewusst per Identifikation gewisse »männliche«/»weibliche«, »deutsche«, »katholische« usw. Eigenschaften und Verhaltensweisen übernimmt. Im Allgemeinen sind mit diesen Zugehörigkeiten keine psychischen Konflikte oder Probleme verbunden: Man kann ein katholischer deutscher Mann sein, ohne dass man sich dadurch widersprüchlichen Handlungsanweisungen ausgesetzt sieht.
Etwas schwieriger ist es mit der persönlichen Identität in Familienunternehmen. Denn hier gibt es drei unterschiedliche Möglichkeiten der Zugehörigkeit: zur Familie, zum Unternehmen, zu den Gesellschaftern. Das kompliziert die Beziehungen zueinander und sorgt für Verwirrungen der individuellen Identität. Denn die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern sind anders strukturiert als die Beziehungen zwischen Gesellschaftern oder den Mitarbeitern eines Unternehmens.
Das in der Literatur seit Langem verwendete Drei-Kreis-Modell (Abb. 4) illustriert, wie komplex die Beziehungsnetze in und um ein Familienunternehmen herum sein können. Die Beteiligten haben aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Zugehörigkeiten einen unterschiedlichen Status. Wie mit diesen Unterschieden umgegangen wird, ist von Familie zu Familie verschieden. Das betrifft z. B. die Frage, wie »Zugehörigkeit zur Familie« definiert ist. Werden nur die (männlichen) Nachkommen des oder der Gründer als Familienmitglieder betrachtet oder gelten auch Angeheiratete als zugehörig? Dürfen sich auch die Ehemänner oder -frauen, die nicht Gesellschafter sind, für die Belange des Unternehmens interessieren? Kann das Unternehmen auch auf sie als potenzielle Ressourcen zurückgreifen? Gehören familienfremde Gesellschafter nicht doch irgendwie zur Familie? Usw.
Abb. 4: Möglichkeiten der unterschiedlichen Zugehörigkeiten zu Familie, Unternehmen, und Gesellschaftern
Solche Abgrenzungsfragen machen deutlich, welche emotionalen und intellektuellen Anforderungen an die beteiligten Personen gestellt sind, aber auch, welche Konfliktpotenziale sich für das Familienleben und das Unternehmen daraus ergeben, die Kontexte und ihre widersprüchlichen Verhaltens- und Rollenerwartungen im Blick zu behalten und zu »managen«.
Ein besonders Risikopotenzial für Familie wie Unternehmen resultiert daraus, dass Personen, die zu beiden Systemen gehören und miteinander im Konflikt stehen, die Möglichkeit haben, nach Belieben das Spielfeld, d. h. den Kontext, der die Bedeutung eines Verhaltens bestimmt, zu wechseln. Es entwickelt sich dann eine Dynamik, die nicht leicht zu beherrschen ist. So kommt es immer wieder vor, dass das Unternehmen zum Schlachtfeld wird, auf dem familiäre Kriege ausgetragen werden, Machtkämpfe zwischen Verwandten gewinnen manchmal eine in anderen Familien ungeahnte Dimension, wenn, beispielsweise, Mehrheiten an Geschäftsanteilen benutzt werden, um »Siege« in Auseinandersetzungen zu erringen, die ihre Wurzeln in der Familie haben usw. Und auf der anderen Seite können Konflikte der Unternehmenspolitik in die Familie schwappen, sodass unter dem Weihnachtsbaum über Investitionsentscheidungen verbittert gestritten wird (»Stille Nacht, heilige Nacht«).
Das Drei-Kreis-Modell zeigt auch, warum es solch eine große Variationsbreite unterschiedlicher Formen von Familienunternehmen gibt. So existieren Unternehmen, in denen, beispielsweise, überhaupt kein Familienmitglied mehr aktiv im Unternehmen tätig ist, sondern alle sich auf die Gesellschafterrolle beschränken (müssen). In anderen Unternehmen stammen die Gesellschafter aus zwei oder mehr Familien, manchmal gibt es familienfremde Aktionäre usw.
Wer sich intensiver mit Familienunternehmen beschäftigt, wird mit einem Multiversum höchst individueller Modelle konfrontiert, die offenbar allesamt mit dem Überleben und dem ökonomischen Erfolg des Unternehmens vereinbar sind. Allerdings – das sei vorweggenommen – lassen sich durchaus Unterschiede benennen, die solche Modelle riskanter oder chancenreicher machen. Trotzdem ist es zum Verständnis eines jeden Familienunternehmens unverzichtbar, sich ein Bild von den unterschiedlichen Zugehörigkeiten und der daraus folgenden Beziehungsdynamik in Familie und Unternehmen zu machen. Und es stellt sich natürlich die Frage, ob es irgendwelche Faktoren gibt, die alle diese unterschiedlichen Typen von Familienunternehmen miteinander verbinden. Um die Antwort vorwegzunehmen: Sie alle sind mit Paradoxien konfrontiert, die sich aus den widersprüchlichen Rationalitäten von Familie und Unternehmen ergeben.
2.5 Paradoxien in Familienunternehmen
Unternehmen als Teilnehmer am Wirtschaftsleben sind sachorientierte Organisationen. Sie überleben nur, wenn sie irgendwelche Produkte oder Dienstleistungen entwickeln, herstellen und vertreiben, die dafür sorgen, dass sie langfristig mehr Zahlungen erhalten als sie zu leisten haben. Um dies zu gewährleisten, müssen charakteristische Funktionen dauerhaft erfüllt werden, das heißt, es müssen zielorientiert Prozesse entwickelt und als Routinen etabliert werden. Die Akteure, die diese Funktionen übernehmen, müssen im Prinzip austauschbar sein. Das längerfristige Überleben eines jeden Unternehmens hängt davon ab, dass überlebenswichtige Aufgaben auch dann erfüllt werden, wenn ein einzelner Mitarbeiter krank wird, im Urlaub ist oder in Rente geht. Die Personalpolitik muss daher die Grenzen des Unternehmens in beide Richtungen offen halten: Man muss als Außenstehender Zugang finden können, und das Unternehmen muss sich von Mitarbeitern trennen können. Es darf weder exklusiv den Zutritt verweigern, noch darf es absoluten Kündigungsschutz gewähren (Simon 2006, S. 80).
Das Gegenbild zum Unternehmen mit seiner wirtschaftlichen Zweckrationalität bietet die durchschnittliche westliche Familie heute. Sie wird – so ist zumindest das Ideal – nicht wegen nüchtern kalkulierter materieller Vorteile gegründet, sondern aufgrund »großer Gefühle«. Und es sind Gefühle, die man weder kaufen noch sich »verdienen« oder »erarbeiten« kann, sondern man bekommt sie »geschenkt«. In der Familie steht die Person des einzelnen Familienmitglieds im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nicht ihre Funktion oder Nützlichkeit (Luhmann 1988b; Simon 1999). Im Prinzip gibt es nichts, was ein Familienmitglied angeht, das nicht auch die anderen Familienmitglieder angehen und betreffen würde und daher zum Thema der Kommunikation werden könnte. Insofern stellt die Familie heute ein soziales System dar (wahrscheinlich das einzige), das so etwas wie eine Gegenwelt zu sachbezogenen Organisationen und Institutionen bildet. Dort wird der Einzelne vor allem in seiner stets nur einige wenige Aspekte seiner Gesamtperson nutzenden und wahrnehmenden Teilidentität als (austauschbarer) Rollen- und Funktionsträger wahrgenommen,