Frühling auf Huntington Castle. Imelda Arran

Frühling auf Huntington Castle - Imelda Arran


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Sie, Madame, aber wir helfen den anderen!“ sagte Claude, der Kutscher lapidar. Die Duchesse blickte ihn an, als verstehe sie nicht, denn seine Worte hatte er im üblichen, dienstfertigen Ton gesprochen. Erst als er mit dem Leuchter, den er in der Hand hielt, ausholte, schlug das Entsetzen auf dem Gesicht der Frau ein wie ein Donnerschlag. Claude traf sie mit voller Wucht an der Schläfe. Sie taumelte kurz und brach zusammen.

      „Maman!“ Madeleine traute ihren Augen kaum. Sie stürzte auf ihre Mutter, rüttelte sie, zerrte an ihrem Kleid und schrie. Als Claude ging, um der Revolution die Tür zu öffnen, brachte sich Madeleine in einer Fensternische hinter einem Vorhang in Sicherheit und beobachtete entsetzt, wie Menschen, die sie bisher nur von weitem gesehen hatte, ihr Zuhause stürmten.

      Oben auf der Treppe stand Paulette. Sie hatte sich bereits an Madeleines Kleiderschrank bedient und wollte die Revolutionäre gebührend empfangen. Mit ausgebreiteten Armen stand sie da. „Kommt her, hier ist genug für alle!“ Die Meute trampelte über die tote Duchesse hinweg und stürmte hinauf zu Paulette, die einen seidenen Schal schwenkte. Die Revolutionäre sahen nur die fein gekleidete Dame, den Schal, ihr Lachen, und fielen wütend über sie her. Vor wenigen Augenblicken, als ihre Mutter so schrecklich geschrien hatte, hatte Madeleine schon geglaubt, es könne keinen schrecklicheren Schrei geben, doch Paulettes Schrei schien das ganze Haus auszufüllen, so laut, so durchdringend war er. Ihr Schrei zerriss endgültig die Welt, in der Madeleine bisher gelebt hatte und schnitt tief in ihre Seele. Als sie sah, wie Paulettes blutüberströmte Leiche über die Balustrade geworfen wurde und mit einem hässlichen Geräusch auf dem Marmorboden der Halle aufschlug, wurde Madeleine ohnmächtig.

      Als sie wieder zu sich kam, hörte sie von überall im Haus Gelächter, derben Gesang und Lärm, als würde ein wüstes Gelage gefeiert. War jemand hier, der sie hinter dem Vorhang bemerkt hatte? Sie lauschte angestrengt, ob es auch in ihrer unmittelbaren Umgebung Geräusche gab, doch hier unten in der Halle schien alles still. Vorsichtig lugte sie hinter dem Vorhang hervor. Ihre Mutter lag bleich und mit starren Augen da. „Maman?“ flüsterte sie. Aber die Mutter regte sich nicht. Madeleine stemmte sich langsam hoch und schaute sich mit eingezogenem Nacken um. Die Überreste von Paulette lagen in einer großen Blutlache; Madeleine erkannte Fetzen ihres eigenen Kleides an der Toten.

      Die Tür zum Dienstbotentrakt war nicht weit entfernt.Wenn sie diese Tür erreichen könnte, ohne dass jemand sie bemerkte... Langsam schob sie sich Stück für Stück vorwärts. Sie stand nicht auf, denn falls jemand kam, wollte sie sich gleich wieder wie tot hinfallen lassen. Fast hatte sie die Tür erreicht, da hörte sie oben auf der Treppe Schritte. Mit klopfendem Herzen hielt sie inne. Sie kamen näher. Wenn man sie hier lebendig fände, würde sie mit Sicherheit wünschen, sofort tot zu sein. Ihr Herz raste, als die Schritte noch näher kamen; ihr Blut dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie die Schritte kaum hören konnte. Es waren Männerschritte, die nun unten in der Halle angekommen waren und bei ihrer Mutter innehielten.

      „Nur eine tote Adlige ist eine gute Adlige!“ murmelte der Mann und spuckte aus. Hatte der Kerl ihre tote Mutter angespuckt? Madeleine musste sich zwingen, nicht zu schreien. Als die Schritte sich entfernten, kroch sie weiter zu der Tür, zog sie auf und schlüpfte hinein. War sie gerettet? Zumindest vorerst? Vorsichtig tastete sie sich weiter zur Küche. Von dort gab es eine Treppe hinunter in den Keller, wo sie sich in einer dunklen Ecke versteckte.Wieder lauschte sie angestrengt. Da war noch jemand im Keller! Ganz gleich, ob es Fremde oder ihre Diener waren, jede Begegnung war lebensgefährlich. Wahrscheinlich suchte man nach mehr Wein und Essen. Madeleine drückte sich in ihre Ecke und wollte abwarten, bis alles still wäre, aber wie lange konnte das dauern? Irgendwann würden diese Leute doch auch müde werden, nach Hause gehen, dort schlafen? Es schien ihr wie eine Ewigkeit, bis endlich alles ruhig war und sie keine Schritte mehr hörte.Vorsichtig lugte sie um eine Ecke. Da fühlte sie sich von zwei Händen gepackt und hervorgezerrt.

      „Was haben wir denn hier?“ krächzte ein Mann, dessen Anblick Madeleine das Fürchten lehrte. Er war nicht besonders groß und eher schmächtig, aber seine Hände drückten wie eiserne Zangen in ihre Arme. Die Farbe seiner zerschlissenen Kleidung war vor lauter Dreck nicht auszumachen, sein Gesicht war übersät mit Pockennarben, in den Winkeln seiner Augen glitzerte heller Schleim, und die wenigen Zähne in seinem Mund waren faulig braun. Madeleine wandte den Kopf ab, um seinem Atem zu entkommen - vergeblich.

      „Lassen Sie mich los! Sofort!“ Aber sie klang ganz und gar nicht gebieterisch. Vater hatte die Menschen immer in zwei Sorten eingeteilt: Wir und die Anderen.Wir, das waren alle Menschen von Stand; gebildet, kultiviert und ‚auf den ersten Blick als Menschen erkennbar’, wie Vater immer gesagt hatte. Die Anderen, das waren die Diener, auch Bauern aus der Umgebung, Bürger in den Städten, die man auf Reisen zu Gesicht bekam. Aber das, was hier vor Madeleine stand, war das vollkommen Andere. Madeleine schrie auf, als der Mann seine Hand von ihrem Arm löste und ihre Brust quetschte. Um ihren Schrei zu ersticken, drückte er ihr mit seiner anderen Hand die Kehle zu. Er zerrte an ihrem Ausschnitt herum, der feine Stoff riss und Madeleine wünschte sich innigst, das Schicksal ihrer Mutter bereits geteilt zu haben. Plötzlich hörte sie einen dumpfen Schlag, doch galt er nicht ihrem Kopf. Als sie die Augen öffnete, sackte der Mann gerade zusammen, und hinter ihm stand Xavier, der junge Leibdiener ihres Vaters, mit einem Knüppel in der Hand.

      „Xavier!“ schluchzte Madeleine und ließ sich in seine Arme fallen. Er hielt sie dort für eine Weile fest und ließ sie weinen, bis ihr Zittern nachließ und sie wieder sprechen konnte. „Meine Eltern! Haben Sie das gesehen?“

      „Ja, ich habe gesehen, was man Euren Eltern angetan hat. Ihr müsst jetzt leise sein, sonst wird man uns beiden das gleiche antun. Beruhigt Euch. Ihr werdet Euch jetzt hier im Keller verstecken.Wenn alles vorbei ist, hole ich Euch, und dann werden wir überlegen, wie es weitergehen soll.“

      „Weitergehen? Aber was soll denn noch weitergehen?“ Madeleine stand vollkommen neben sich und verstand nicht, wie Xavier an so abwegige Dinge wie Zukunft denken konnte.

      „Zur Abwechslung tut Ihr jetzt, was ich Euch sage. Verlasst Euch auf mich.

      Mein Vater hat Eurem Vater immer treu gedient und hat diese Treue an mich weitergegeben. Ich werde Euch jetzt nicht verlassen.“

      „Der Mann eben, er hat mein Hemd zerrissen. Ich glaube, er wollte mich... anschauen!“

      Xavier seufzte innerlich und fuhr sich dabei durch sein blondes Haar. Er hielt es für peinlich, dass hochwohlgeborene Mädchen selbst mit siebzehn Jahren noch nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung hatten, was Männer mit Frauen tun konnten.

      Er zog dem Mann, den er soeben erschlagen hatte, die Jacke aus und warf sie sich über. Angewidert verzog er das Gesicht.

      „Ich will nicht Paulettes Schicksal teilen“, erklärte er kurz. „Ich mochte sie nie besonders, aber ich hätte ihr doch einen anderen Tod gewünscht.“

      „Was haben diese Leute ihr angetan?“

      „Genau das, was dieser Mann gerade mit Euch tun wollte. Kommt jetzt mit mir.“

      Er führte sie in einen Raum, den sie gar nicht kannte, in dem sie noch nie gewesen war. Für einen Moment schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, wie sonderbar es war, dass der Leibdiener ihres Vaters ihr eigenes Elternhaus besser kannte als sie selbst.

      „Ihr setzt Euch jetzt hinter diese Fässer und deckt Euch mit den leeren Säcken zu. Ich gehe wieder nach oben und sehe, was ich tun kann.“

      „Suchen Sie Jean Pierre. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Er muss irgendwo sein. Ich habe solche Angst, dass ich ihn auch verloren habe!“

      „Ich werde Euren Bruder finden.Vertraut mir!“

      Madeleine nickte schniefend, dann war Xavier verschwunden. Er würde Jean Pierre ganz sicher finden.

      Die beiden hatten etwa das gleiche Alter, und Madeleine hatte manchmal den Eindruck gehabt, als seien sie mehr Kameraden denn Herr und Diener. Nein, Xavier würde nicht zulassen, dass Jean Pierre etwas geschah. Sie hörte, wie Xavier den Leichnam des Mannes wegschleifte, dann schien alles still im Keller. Noch lange lauschte Madeleine in die Finsternis, hörte den Lärm der Menschen,


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