Frühling auf Huntington Castle. Imelda Arran

Frühling auf Huntington Castle - Imelda Arran


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inständig, sie hätte das Kleid angezogen, das ihre Mutter ihr gegeben hatte. Sie würde nicht schlafen; nie wieder würde sie schlafen!

      Sie schreckte auf, als jemand die Säcke wegzog und sie an der Schulter rüttelte. Im ersten Augenblick schaute sie sich verwundert um und glaubte zu träumen, doch dann zerbrach ihr Schlaf zu grauenhafter Wirklichkeit.

      „Xavier! Haben Sie meinen Bruder gefunden?“

      Xavier nickte, schaute aber traurig zur Seite.

      „Heißt das...? Ist er ...?“ Madeleine wagte nicht, es auszusprechen. Sie wollte nicht in einer Nacht Vater, Mutter und Bruder verloren haben.

      „Es tut mir leid, Mademoiselle la Duchesse.“

      Xavier dachte an den grausigen Anblick, den Jean Pierre geboten hatte. Jemand hatte ihm aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen; er hatte ihn nur an seiner Kleidung erkannt.

      Madeleine schrie nicht, sie weinte nicht, sondern sackte in sich zusammen. Sie kauerte am Boden, schlang ihre Arme um die Knie und starrte stumm vor sich hin.

      „Mademoiselle?“

      Madeleine reagierte nicht.

      „Hier ist etwas Brot und ein wenig Wein. Die Revolutionäre sind noch immer hier und wüten. Es könnte sogar noch ein paar Tage dauern. Ihr müsst in Eurem Versteck bleiben bis ich Euch hole.“

      In den folgenden drei Tagen versorgte Xavier sie mit Nahrung, redete ihr gut zu und beschwor sie, durchzuhalten. Madeleine war gefangen in der Dunkelheit, gefangen in ihren Ängsten, ihren Gedanken, die sich wie Mühlräder drehten. Sie fragte sich, woher dieser Hass kam. So viel Hass. Wie konnten die Menschen es wagen, gegen die Ordnung zu verstoßen, die Gott so gewollt hatte?

      Am nächsten Abend, als es Madeleine besser ging, setzte Xavier sich zu ihr: „Lange können wir hier nicht mehr bleiben. Die ersten Revolutionäre verschwinden schon, um das nächste Schloss zu plündern; von der Dienerschaft sind noch einige da, die es sich jetzt in den feinen Betten gemütlich machen. Ich werde Euch aus dem Schloss bringen, aber wir müssen sehr gut überlegen, was wir brauchen und mitnehmen können.

      Wie schlafwandelnd erhob sich Madeleine und schaute Xavier mit einem Blick an, der aus sehr weiter Ferne zu kommen schien; aus einer Ferne, in der es noch einen französischen Adel gab. Xavier beschloss, darüber hinwegzugehen, um Madeleines Gedanken auf die wesentlichen Dinge zu lenken, was ihr sicher am besten half, mit der Situation zurechtzukommen. „Hört zu, ich habe einen Plan: Ich werde Euch nach England zu Euren Verwandten bringen. Dort seid Ihr sicher. Aber der Weg dorthin ist gefährlich. Deshalb müssen wir uns gut vorbereiten. Ich habe Euch etwas zum Anziehen mitgebracht.“

      Es waren nicht einmal Sachen für einen Edelknaben, sondern grobe Kleider wie für einen Dienstboten, einen Laufburschen, doch Madeleine zog wortlos alles an, stopfte ihr Nachtgewand in die Hosen und streifte das Hemd über. Xavier hatte recht: Man durfte sie nicht erkennen. Doch als er ihr eine Schere hinhielt, damit sie sich die Haare schneiden konnte, zögerte sie.

      „Bitte, Xavier, tun Sie es. Ich glaube, ich kann es nicht.“

      Sie wandte sich ab und fühlte, wie er in ihre dichten Locken griff. Die Schere knirschte in ihrem Haar, dann fiel ein dickes Büschel zu Boden. Madeleine fühlte sich wie ausgelöscht, als ihr Haar wie ein Teppich um sie herum auf der Erde lag. Kaum etwas verschonte Xavier.Als er endlich fertig war und Madeleine sich über den Kopf strich - so behutsam tastend, als berühre sie eine frische Wunde, ließ er ihr keine Zeit.

      „Das ist gut so. Man wird Euch nicht mehr als adliges Mädchen erkennen. Jetzt hört weiter zu. Kennen Eure englischen Verwandten Euch von Angesicht? Haben sie Euch jemals gesehen?“

      Madeleine konnte nur den Kopf schütteln.

      „Gibt es hier sonst jemanden, den diese Verwandtschaft kennt?“

      Madeleine überlegte kurz. „Onkel Charles, der jüngste Bruder der Familie.“ „Ich kann Euch zu ihm bringen. Dann könntet Ihr gemeinsam mit ihm nach England reisen. - Wisst Ihr, wenn Euch dort niemand kennt, dann könnte es sein, dass man Euch nicht glaubt, dass Ihr die Tochter der Duchesse seid. Versteht Ihr? Wir brauchen Beweise, dass Ihr es seid. Das könnte Euer Onkel sein, aber auch Dokumente, Briefe und dergleichen.“ Er beobachtete ihr Gesicht genau, während sie über seine Worte nachdachte. So langsam schien sie ihre Situation zu begreifen: Wenn sie jetzt nicht selbst handelte, dann würde es ihr sehr bald genau so gehen wie ihren Eltern und ihrem Bruder, wie Paulette.

      „Es gibt Briefe“, sagte Madeleine mühsam.

      „Wo?“

      „Im Schlafzimmer meiner Eltern. Dort steht das Schreibpult meiner Mutter.“

      „Gut. Ich werde dort nachsehen. Bleibt noch hier. Ich denke, heute Nacht können wir aufbrechen.“

      Alles war finster und still, als Xavier sie endlich holte. Als sie nach oben in die Halle kamen, erkannte Madeleine ihr eigenes Elternhaus nicht mehr, denn nichts mehr war so wie vorher: Der Vollmond schien durch die zerschlagenen Fenster und ließ Madeleine das Ausmaß der Zerstörung erahnen. Die Bilder ihrer Vorfahren waren zerschnitten worden, die Teppiche von den Treppen gerissen, die Vorhänge fehlten. Überall lagen kaputtes Geschirr, Unrat, Essensreste und Fäkalien, wie Madeleine nur vermuten konnte, denn der Gestank nahm ihr den Atem. Dort, wo ihre Mutter gelegen hatte, war nur noch ein schwarzer Fleck auf dem Marmor zu erkennen.

      „Wo ist meine Mutter? Haben Sie sie begraben?“

      „Nein. Ihr müsst jetzt sehr stark sein.Wenn wir gleich nach draußen gehen, schaut mich an. Schaut nur mich an!“ sagte Xavier eindringlich. Seine Hände, mit denen er ihr Gesicht bei diesen Worten zu seinem zwang, taten ihr weh. Er zog sie vor das Eingangsportal. Der Druck seiner Hand um ihren Oberarm schmerzte. Er wollte sie damit zwingen, ihn anzuschauen, doch ihr Blick schweifte unwillkürlich durch den Garten. Xavier konnte gerade noch ihren Schrei ersticken, indem er seine Hand auf ihren Mund presste. Dort an der Eiche, unter der sie mit ihrem Bruder gespielt, mit ihren Eltern gesessen hatte, hingen sie nun alle drei. Man hatte also auch die tote Mutter und den toten Bruder zu dem Vater gehängt. Das Bild brannte sich in Madeleines Gedächtnis, und ihr war klar, dass sie nur durch ein Wunder und Xaviers Hilfe nicht daneben hing.

      2. Kapitel - Der Weg nach Huntington

      „Ich kann nur hoffen, dass Onkel Charles die Flucht gelungen ist“ stieß Madeleine düster hervor, als sie vor dem ausgebrannten Schloss des Onkels standen.

      „Bis nach Harfleur sind es von hier aus nur ein paar Meilen. Er könnte schon nach England geflohen sein“, vermutete Xavier. „Lasst uns also weiterziehen.“

      „Xavier, ich bin müde! Wir sind jetzt schon eine ganze Woche unterwegs, wir haben die Nächte in den Wäldern verbracht und kaum etwas Ordentliches gegessen. Können wir nicht eine Rast machen?“

      „Wie Ihr seht, ist das Feuer schon aus und der Braten gegessen. Hier gibt es nichts mehr.“

      Madeleine erschrak über Xaviers kalte Worte, aber er hatte natürlich recht. Hier gab es nichts mehr, außer der Gefahr, entdeckt zu werden; trotzdem ging Xavier nun hinein in das Schloss, aus dessen verkohltem Dachstuhl immer noch Rauch aufstieg. Er war noch keine drei Schritte gegangen, da hielt er inne. Die Familie war tot. Er atmete tief durch, bevor er rief:

      „Bleibt draußen, Mademoiselle la Duchesse. Verbergt Euch dort zwischen den Büschen - für alle Fälle.“

      Madeleine gehorchte. Im Grunde war sie froh, dass Xavier alles in die Hand genommen hatte. Sie war ohnehin zu nichts fähig und fühlte sich noch immer wie betäubt. Es dauerte nicht lange und er erschien mit ein paar verkohlten Dingen in der Hand, die Madeleine auf den ersten Blick nicht erkannte.

      „Schaut, das ist ein wenig Fleisch, das in der Speisekammer übersehen wurde. Es ist nur außen verbrannt. Wir können die verkohlte Rinde abschneiden, dann haben wir etwas Ordentliches im Magen.“

      Madeleine glaubte, noch nie etwas Köstlicheres


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