Frühling auf Huntington Castle. Imelda Arran
müssen, wenn es die Situation erfordert. Lasst uns dann nicht auffliegen, indem Ihr aufbegehrt. Ihr seid nun mein Bursche, der meine Befehle erhält und ausführt. - Zeigt mir Eure Hände!“ Verwirrt hielt Madeleine ihm ihre Hände hin. Es war ihr unangenehm, dass er ihre Hände so eingehend betrachtete, sie sogar berührte, um sie nach innen und außen zu wenden. Ihre Hände hatten in den letzten Wochen nicht nur ihre feine Blässe verloren, sondern auch jede Zartheit. Es waren mittlerweile tatsächlich die Hände eines jungen Burschen, denn ihre Fingernägel waren nicht nur schmutzig, sondern auch eingerissen; mühsam hatte sie sie mit einem kleinen Messerchen in Form gebracht. Die Haut war trocken und hatte sogar Schwielen von dem Wanderstab, den Xavier ihr in die Hand gedrückt hatte, damit sie es etwas leichter haben möge.
„Eure Hände sehen ganz gut aus. Glaubwürdig.Versteht Ihr? Man darf Euch auf keinen Fall als junge Frau erkennen, denn sonst sind wir verloren. Bleibt immer bei mir, dann wird schon alles gut gehen.“
Xavier hatte schnell zwei Plätze auf einem Schiff besorgt, das ihn und Madeleine nach England übersetzte. Noch nie hatte Madeleine ein Schiff bestiegen. Fremde Gerüche strömten auf sie ein:Teer, salzige Luft, das Holz des Schiffes; selbst das riesige Segel, das sich in der Morgensonne blähte, verströmte einen eigenen Duft. Hätte sie ihre Familie nicht tot und ohne Begräbnis zurücklassen müssen, wäre anstelle Xaviers ihr Bruder bei ihr gewesen, hätte sie es als ein großartiges Abenteuer empfinden können. Aber so war ihr Herz schwer, als sie die Küste Frankreichs verschwinden sah. Ganz klein wurde die Küstenlinie, bald konnte sie nur noch den Leuchtturm erkennen, und dann war Frankreich und mit ihm ihr altes Leben, im Morgendunst verschwunden. Sie ahnte, dass sie Frankreich nie mehr wiedersehen würde. Ihr einziger Trost war, dass sie dem Comte de Beauchamps sicher entronnen war.
Am folgenden Morgen kam England in Sicht. Sobald sie englischen Boden unter den Füßen hatten, fühlten sie sich sicher. Hier konnte ihnen nichts geschehen - so glaubten sie zumindest. Madeleine schaute sich mit großen Augen in diesem Land um, aus dem ihre Mutter kam, und das sie selbst noch nie betreten hatte. Das geschäftige Treiben des Hafens, all das Neue, ließ ihr keine Zeit für Trauer. Anders als in Harfleur saß ihnen nicht die Angst im Nacken, entdeckt zu werden. Also schlenderten sie gemächlich am Quai entlang. Die Lagerhäuser waren mit Teer gestrichen, um dem beständigen Seewind standzuhalten. An Seilwinden wurden Säcke emporgezogen und in die großen Fenster gehievt. Hafenarbeiter löschten Ladung oder brachten Fracht auf die Schiffe. Schänken waren da, vor denen junge Frauen sehr vertraut mit Seeleuten sprachen, sich sogar in aller Öffentlichkeit küssen ließen! Machten sich diese Frauen denn gar keine Sorgen um ihren Ruf?
Madeleine erschrak, als ein Anker direkt neben ihr ins Wasser rauschte und sie einige Spritzer abbekam. Schon begann sie zu zetern, aber Xavier packte sie im Genick und drückte ihr seine andere Hand auf den Mund. So zerrte er sie zur Seite, zwischen zwei Lagerhäuser.
„Burschen fiepsen nicht herum wie Mädchen, wenn sie ein wenig nass geworden sind. Also schweigt!“ Xavier klang sehr ärgerlich, und er schaute sie noch einmal sehr durchdringend an, bevor er sie wieder losließ.
„Xavier, was fällt Ihnen ein!“ fauchte sie, da drückte er sie gegen die Wand, dass ihr fast der Atem verging.
„Schweigt! Augenblicklich! Oder ich lasse Euch jetzt und hier sofort stehen! Ihr seid mein Bursche und tut genau das, was ich Euch befehle.“
„Wieso muss ich denn immer noch als Ihr Bursche auftreten? Wir sind jetzt in England. Da könnte ich auch als ich selbst reisen“, erwiderte sie trotzig und verschränkte ihre Arme, soweit ihr dies unter Xaviers festem Griff möglich war.
„Ich habe genau gesehen, mit welchem Blick Ihr die Frauen dort drüben gerade angeschaut habt. Denkt Ihr denn wirklich, es ist Eurem Ruf förderlich, wenn Ihr als junge Frau allein reist, nur von einem Mann begleitet, mit dem Ihr nicht verwandt seid?“
„Xavier, machen Sie sich nicht lächerlich! Sie sind mein Diener. Als solcher können Sie mich begleiten.“
„Wenn Ihr wirklich standesgemäß als Ihr selbst reisen wollt, müsst Ihr Euch nicht wundern, wenn sich die englischen Herren nicht gerade um Eure Hand reißen. Auch wenn wir beide hier in aller Unschuld reisen, wird man von Eurer Reise erfahren und Fragen stellen. Unangenehme Fragen, die ich dann beantworten darf. Ich will mich nicht bei Eurem Onkel gleich in ein schlechtes Licht rücken.“
„Wie kommen Sie auf den abwegigen Gedanken, dass ich hier in England einen Ehemann finden will? Vielleicht ist es mir sogar viel lieber, wenn die englischen Herren mich in Ruhe lassen. Eines sage ich Ihnen, Xavier: Ich bin dem Comte de Beauchamps entkommen und werde mich mit Zähnen und Klauen wehren gegen eine vorteilhafte Heirat mit einem uralten, schielenden Dumpfbeutel.“
Xaviers Kiefer mahlten, während er Madeleine böse anstarrte. Bemüht freundlich sagte er schließlich: „Wenn diese Reise so unauffällig wie möglich vonstattengeht, können wir immer noch behaupten, dass in Frankreich eine Anstandsdame dabei war und Euer Onkel Euch in Dover in Empfang genommen hat. Das erscheint mir die sicherste Lösung. Ich bitte Euch, vertraut mir. Ich will nur Euer Bestes.“
Er tat, als hätte er sie nicht gehört! Madeleine war empört und keineswegs überzeugt. Sie wollte aufbegehren, aber Xavier war schneller: „Seht Ihr, da bleiben schon die Leute stehen und schauen sich nach uns um. Wir wollen nicht auffallen, um keinen Preis!“ Als sie wieder aus dem Winkel hervortraten, fügte er versöhnlicher hinzu: „Du hast sicher auch Hunger, Junge, nicht wahr? Also lass uns jetzt in die Stadt gehen und etwas essen.“
Der Weg in die Stadt führte durch gepflasterte Straßen, vorbei an Steinhäusern, in denen wohl die Kapitäne wohnten, wenn sie nicht auf See waren, dachte sich Madeleine. Die Menschen kleideten sich hier etwas anders als in Frankreich, aber alle sprachen so, wie ihre Mutter mit ihr schon als Kind gesprochen hatte. Der Schmerz über den Tod ihrer Eltern wurde mit einem Schlag übermächtig. Madeleine musste sich zwingen, nicht zu weinen, aber der Klang der Sprache hatte auch etwas Tröstliches.
In der Schänke bestellte Xavier das Essen auf Englisch und war ganz stolz, dass der Wirt ihn verstand. Ihm schmeckte es nicht, aber Madeleine fand das Lamm mit Soße köstlich. Das Ale passte gut dazu, Xavier vermisste allerdings den Rotwein. Madeleine wunderte sich, dass Xavier als Diener einen so feinen Gaumen entwickelt hatte, dass ihm alles fade vorkam, zu wenig gewürzt und ganz ohne Raffinesse. Es mochte wohl daran liegen, dachte Madeleine, dass England das Land ihrer Mutter war und sie allein deshalb alles herrlich finden wollte.
„Und nun sollten wir uns ebenfalls englisch einkleiden. Je weniger wir auffallen, desto besser. Und denkt daran, Ihr seid nun mein Bursche und müsst mir gehorchen“, fügte Xavier leise hinzu, als sie aus der Schänke ins Sonnenlicht traten.
„Da Ihr es ständig erwähnt, werde ich es ganz sicher nicht vergessen“, antwortete Madeleine schnippisch. „Wie soll eigentlich mein Name lauten?“
„Mein Bursche könnte Matti heißen. Wenn Euch jemand nach Eurem Namen fragt und Ihr zuerst Madeleine sagen wollt, könnt Ihr immer noch ein wenig stottern und auf Matti umschwenken.“
Am Marktplatz betrat Xavier ein Geschäft, dessen Schaufenster und Auslagen ihm passend erschienen. Madeleine wollte ihm folgen, doch Xavier hielt sie zurück.
„Warte hier auf mich, Bursche!“ sagte er laut, wobei er sich umschaute, als wolle er sich vergewissern, dass Passanten seinen gebieterischen Tonfall gehört hatten.
‚Wie peinlich!’ dachte Madeleine. ‚Er benimmt sich wie ein Bürgerlicher, der einen Adligen spielt.’ Sollte sie ihn aufklären? Sie beschloss, ihn erst darauf hinzuweisen, wenn es zu schlimm wurde und er sie beide mit seinem albernen Verhalten in Gefahr brachte. Vorher wollte sie sich noch eine Weile amüsieren und sich damit für seine Unfreundlichkeit entschädigen. Madeleine lugte durch die Fensterscheiben ins Innere des Geschäftes. Xavier trat auf wie ein Gockel. An seiner Gestik erkannte sie, dass ihm alles nicht fein genug war. Die Verkäufer rollten mit den Augen und lachten hinter seinem Rücken. Madeleine war gespannt, was sie dem armen Xavier verkaufen würden. Als Xavier nach endlosen Stunden den Laden verließ, bot sein Stil weiteres Amüsement. Sie würde ihren Onkel und ihre Tante bitten müssen, nachsichtig