Frühling auf Huntington Castle. Imelda Arran
zunächst, dass wir uns gegen diese Übermacht wehren könnten und verschanzten uns mit ein paar Dienern, die wir für treu hielten.“ Wieder hielt er inne, legte eine Hand über die Augen und atmete schwer. Als er die Hand der Lady so sanft auf seiner zitternden Schulter spürte, ermannte er sich und fuhr fort: „Die Frauen hatten wir gut im Keller versteckt; dort würde man sie so schnell nicht finden - glaubten wir. Dann sind Vater und ich mit den Dienern der Meute entgegengegangen. Wir wollten um jeden Preis die Frauen schützen.Wir hätten uns sicher verteidigen können, wenn nicht...“ - Wieder musste Xavier seine Rede unterbrechen, weil er den Schmerz so anschaulich wie möglich darstellen wollte. - „... wenn nicht die eigenen Diener die Hand gegen uns erhoben hätten. Sie erschlugen meinen Vater, schlugen mir ebenfalls mit einem Knüppel auf den Kopf. Ich ging zu Boden. Sie ließen mich für tot liegen, aber ich kam wieder zu mir und konnte mich davon schleppen. Im Schutz der Nacht schlich ich in den Keller, doch da waren Mutter und Madeleine schon tot. Meine süße, kleine Madeleine.“
Er schluchzte sehr ausdauernd.
„Unbemerkt konnte ich mich in den Stall schleichen, wo ich mir eigenhändig ein Pferd sattelte, um zu Onkel Charles zu reiten. Ich hoffte, Onkel Charles warnen und ihn um Hilfe bitten zu können. Doch als ich dort ankam, standen von seinem Schloss nur noch rauchende Trümmer.“ Xavier brach erneut in Tränen aus.
„Jean Pierre, mein armer Junge!“ Die Lady war zutiefst erschüttert.
„Wisst Ihr, ich mache mir so schreckliche Vorwürfe. Ich dachte wirklich, meine Mutter und die kleine Madeleine wären im Keller sicher. Wenn ich dort geblieben wäre, dann hätte ich sie vielleicht retten können.“
„Das hätten Sie wahrscheinlich nicht. Seien Sie dem Himmel dankbar, dass er Sie gerettet hat.Wir sind dankbar, dass wenigstens Sie uns geblieben sind. So gerne hätte ich meine Schwester einmal wieder gesehen und die kleine Madeleine kennengelernt.“
Xavier schluchzte heftig auf, als Madeleines Name fiel.
„Madeleine war so lieblich, Ihr könnt Euch kaum vorstellen, wie hübsch sie war. Sie sah Mutter sehr ähnlich. Sie sang und spielte Klavier, Flöte und Geige. Dass ich sie nun nie mehr hören kann... Es bricht mir das Herz.“
„Unfassbar! Man muss doch etwas dagegen tun können!“
„Aber was, meine Liebe? Unser König müsste Frankreich den Krieg erklären. Das wird er nicht tun. Mit den Bourbonen stand er nie auf vertrautem Fuß. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er eine Flasche extrafeinen Champagner getrunken hat, als er von der Absetzung hörte. - Stimmt es, dass man den König gefangen genommen hat und hinrichten will?“
„Das weiß ich nicht. Aber zuzutrauen wäre es den Revolutionären. Ihr glaubt nicht, wie ruchlos diese Leute sind. Als Menschen kann ich sie nicht bezeichnen. Viel eher als tollwütiges Vieh. Das Schloss war übrigens nicht vollkommen ausgebrannt. Ich konnte noch ein paar Dinge retten, wie ein kleines Bündel Briefe, das Ihr meiner Mutter geschrieben hattet. Ich trage es immer bei mir.“ Er holte es hervor und reichte es der Lady, die es wie einen kostbaren Schatz in ihre Hände nahm. Mit einer zärtlichen Geste faltete sie das Papier auseinander und schluchzte auf. Erneut legte der Earl seine Hände auf ihre Schultern.
Xavier wartete eine Weile, bis Lady Dorothy sich wieder gefasst hatte, dann fuhr er fort: „Wisst Ihr, auf meiner Flucht habe ich mich von den Menschen ferngehalten - zumindest solange ich noch in Frankreich war. Allerdings wurde ich kurz vor der Überfahrt überfallen. Diese Räuber konnten mir nicht mehr viel wegnehmen, allerdings haben sie mir einen Teil der Briefe gestohlen, die ich aus dem Schloss gerettet hatte. Das schmerzt mich mehr als der Verlust des Geldes. - Glücklicherweise haben sie nicht alle gefunden. Einen Teil der Briefe und des Geldes hatte ich an meinem Körper verborgen. Ach! Hätten sie mir doch nur sämtliche Kleider vom Leib gestohlen! Hier in England sind die Verhältnisse stabil und die gottgewollte Ordnung wird hier nichts zerstören.“
„Jean Pierre! Wie schrecklich. Wie müssen alle diese Ereignisse Sie erschüttert haben.“
Hudson erschien und fragte mit einer Verbeugung, ob er das Frühstück servieren dürfe.
„Sicher, Hudson. Und legen Sie ein Gedeck mehr auf. Der Duc de Valmont ist unser Gast.“
„Dies habe ich bereits veranlasst, Mylord. Ebenso habe ich mir erlaubt, das Gästezimmer richten zu lassen.“
„Gut, Hudson. Möchten Sie sich erst etwas frisch machen, Jean Pierre?“
„Danke. Es wird nicht lange dauern.“
„Hudson, führen Sie den Duc de Valmont in sein Zimmer. - Haben Sie Gepäck, Jean Pierre?“
„Lediglich meine Satteltaschen, aber sie sind so gut wie leer.“
„Hudson, lassen Sie die Satteltaschen ins Gästezimmer bringen. Das Frühstück servieren Sie in einer halben Stunde.“
Mit einer Verbeugung ging Hudson; Xavier nickte dankbar und folgte ihm.
„Der arme Junge!“ flüsterte Lady Huntington, nachdem Hudson die Tür geschlossen hatte.
„Schrecklich!Was für ein Grauen. Man darf es sich gar nicht vorstellen, was sich dort abgespielt hat.“
„Wir müssen froh und dankbar sein, dass wenigstens er überlebt hat. Wir wollen ihn über seinen Verlust so rasch wie möglich hinwegtrösten und ihm nun Vater und Mutter sein. - Wie sehr haben wir uns immer Kinder gewünscht. Nun haben wir einen Sohn, aber auf diese Art und Weise habe ich es mir nicht gewünscht.“ Sie schaute verzweifelt zu ihm auf. Da setzte er sich zu ihr, um sie in seinen Armen weinen zu lassen.
*
Xavier, der ‚arme Junge’, ließ sich aufs Bett fallen und musste gewaltsam einen Freudenschrei unterdrücken. Hier war er! Er, der kleine Xavier. Er hatte es geschafft! Er schaute sich in seinem Zimmer um, in das die Morgensonne wie die Ankündigung einer strahlenden Zukunft floss. Das Himmelbett hatte seidene Vorhänge, die Vertäfelung der Wände war von Meisterhand gefertigt, sogar ein Gobelin schmückte den Raum. Warmes Wasser stand in einem Porzellankrug bereit, daneben eine große Schüssel aus Porzellan. Xavier bediente sich dieser Dinge nun mit einer Selbstverständlichkeit, als habe er nie etwas anderes getan. Es war, als lebe er nun im Spiegelbild. So oft hatte er seinem Herrn alles bereitgelegt, ihn umsorgt, ihm jeden Handgriff abgenommen. Nun war er es, der die Dienste eines anderen beanspruchen durfte.
Eine Stunde später saß er mit Onkel und Tante Huntington an der Tafel und ließ sich das englische Frühstück schmecken. Die beiden trugen bereits Trauerkleider. Bei diesem Anblick bat Xavier um Entschuldigung, dass er selbst nur einen Trauerflor trage - er habe so unauffällig wie möglich reisen wollen.
Der Earl ließ sich genau berichten, wie die Reise verlaufen war, wobei Xavier durchaus bei der Wahrheit blieb. Ja, er hatte sich in zerlumpten Kleidern zunächst bis an die Küste durchgeschlagen, dann ein Schiff nach England bestiegen und sich erst dort wieder mit standesgemäßer Kleidung und einem Pferd versorgen können.
„Ihr Tuch ist sehr auffällig, finden Sie nicht?Trägt man das so in Frankreich?“ Xavier schaute etwas beschämt auf das bunte Tuch, das er sich so fein in den Ausschnitt seines Hemdes drapiert hatte; er wusste, er durfte keinen Fehler machen, nicht einen einzigen.Wenn erst einmal der Funke des Misstrauens entfacht war, dann konnte schnell ein Feuer daraus werden.
„Ja, in Frankreich ist es so Mode. Hier trägt man dezentere Tücher?“
„Vor allem in Zeiten der Trauer“, erwiderte der Earl und ließ seine Worte noch eine Weile im Raum hängen, während er seinen Gast eindringlich musterte. Der junge Mann schlug die Augen nieder, worauf sich der Earl im Geiste eine Notiz machte. Er wollte unbedingt Erkundigungen einziehen lassen. Er musste erfahren, was in Frankreich wirklich passiert war.
„Ach, nehmen Sie noch etwas Fasan, lieber Jean Pierre. Sie sind sicher ganz verhungert“, forderte Lady Dorothy ihn auf. Dankbar griff er zu. Noch immer spürte er den Blick des Earls auf sich ruhen. Er konnte hier nicht die ganze Zeit bleiben, sondern musste einen neuen Plan fassen.
„Ich