Frühling auf Huntington Castle. Imelda Arran
Blick auf das Dorf, wo der Rauch friedlich aus den Schornsteinen in den Himmel stieg. Was hatte es mit diesem Ort, mit der Furt, auf sich, dass dieser Jean Pierre so sonderbar nervös wurde?
4. Kapitel - Madeleines Rettung
Der finstere Fluss hatte Madeleine verschluckt und mit sich genommen. Pflanzen, die sich in der Strömung wiegten, griffen nach ihr wie die Arme von Nixen. Das Wasser rauschte in ihren Ohren, drang mit seiner schwarzen Kälte tief in ihren Körper ein und wusch die letzten Reste ihres alten Lebens, ihres Stolzes, ihres Selbstbewusstseins davon. Schon wollte sie sich diesem kühlen Tod ergeben, der ihr lieber war als ein weiterer Schuss aus Xaviers Pistole, da stießen ihre Füße plötzlich an Steine. Scharfkantige, mit Algen überwachsene, glitschige Steine. Zunächst ertasteten nur ihre Zehenspitzen den Grund, und sachte stieß sie sich ab, um an die Oberfläche zu gelangen. Sie legte ihren Kopf in den Nacken, um beim Atmen so wenig wie möglich von sich preiszugeben. Mit etwas Glück bemerkte Xavier sie nicht. Lange konnte sie nicht an der Oberfläche bleiben, denn ihr Gesicht war sicher wie ein weißer Fleck in dem schwarzen Wasser. Da wurde der Fluss so niedrig, dass sie sich hinlegen musste, um nicht mit ihrem Oberkörper aus dem Wasser zu ragen. Madeleine tauchte wieder unter, ihre Finger ertasteten Steine, die wie ein grobes Straßenpflaster verlegt waren. Das Wasser hatte sie an eine Furt geschwemmt. Allzu breit konnte eine Furt nicht sein, also musste sie hier ans Ufer gehen, wollte sie nicht wieder ins tiefere Wasser gerissen werden. Es gelang ihr, ihren Atem zu beruhigen, indem sie immer nur ganz kurz ihre Lippen auftauchen ließ. Die sachte Strömung hob sie einmal kurz aus dem Wasser. Da sah sie am Rande der Furt - dort, wo der Fluss wieder tiefer wurde, eine Trauerweide stehen, die ihre Äste bis ins Wasser hängen ließ. Unter Wasser hangelte sie sich an den Steinen entlang, hin zu dem rettenden Geäst, in dem sie sich verbergen konnte. Vorsichtig schaute sie sich um. Xavier war noch immer auf der Brücke. Das Pferd hatte sich nach dem Schuss beruhigt und stand nun still genug, so dass Xavier die Pistole ein zweites Mal laden konnte. Er starrte offenbar angestrengt auf den Fluss, denn er regte sich nicht und hatte die Pistole im Anschlag. Er hatte also nicht nur in einer Art Affekt auf sie geschossen, sondern wollte sie auch jetzt, da ein klarer Gedanke sein Hirn gekreuzt haben musste, noch immer töten! Madeleine spürte ihren Herzschlag bis zum Hals; die Kälte war mit einem Mal verschwunden. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen, sonst wäre sie tot, denn ein zweites Mal würde er sie nicht verfehlen. Sein Pferd begann zu tänzeln, Xavier ließ seinen Blick ein letztes Mal über den stillen Fluss schweifen, dann ritt er davon.
Madeleine rechnete damit, dass er am Ufer entlangreiten würde, um sicherzugehen, dass sie wirklich ertrunken war, doch das Geräusch der Pferdehufe entfernte sich auf der Straße. Sie kam sich vor wie ein Tier, als sie völlig durchnässt ans Ufer kroch. In der Dunkelheit sah sie nicht, wohin sie tappte, doch der Geruch verriet ihr, dass diese Furt gerne von Schafen benutzt wurde. Sie wagte noch nicht, sich zu erheben, und so erreichte sie auf allen Vieren die Wiese neben dem Weg, wo sie ihre Hände abwischte und den gröbsten Schmutz von ihren Hosen kratzte. Heftig atmend setzte sie sich ins Gras und schaute auf den Fluss, der gemächlich dahin floss, als sei an seinem Ufer niemals etwas geschehen.
Sowie sich ihr Herzschlag, ihr Atem beruhigte, nahm die Kälte wieder Besitz von ihr. Zähneklappernd schlug sie die Arme um ihren Leib und sah sich um, in der Hoffnung, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Ihre Augen, die sich längst an die Dunkelheit gewöhnt hatten, flogen durch ihre Umgebung und entdeckten ein Wäldchen, in dessen Schutz sie die Nacht verbringen konnte. Kaum wollten ihre Beine gehorchen, als sie sich erhob, um in den Wald zu gelangen. Es war mehr ein Taumeln als ein Gehen. Noch bevor sie die ersten Bäume erreicht hatte, brach sie zusammen, worauf sie in einen traumlosen Schlaf versank.
Am nächsten Morgen erwachte sie durchgefroren und mit steifen Gliedmaßen. Alles tat ihr weh, ihre Kleider waren nur wenig getrocknet, hatten dabei aber den letzten Rest Wärme aus ihrem Körper gesogen. Schon wollte sich ihre Familie in ihre Gedanken schieben, doch Madeleine wusste, dass sie weinen würde, wenn sie jetzt daran dachte, was wohl ihre Eltern, ihr Bruder sagen würden, wenn sie sie so sehen könnten. Sie durfte nicht weinen. Nicht jetzt! Sie musste einen klaren Kopf behalten, um von ihrem Leben zu retten, was noch zu retten war: Xavier hatte sie nicht nur verlassen, sondern auch versucht, sie umzubringen. Sie war nun allein auf sich gestellt.Würde ihr Onkel sie empfangen? In ihrem Zustand? Sie verwarf diesen Gedanken mit einem bitteren Lachen. Zumal Xavier dafür sorgen wollte, dass ihr Onkel auf keinen Fall einem abgerissenen Burschen glauben würde, selbst wenn dieser sehr private Dinge über die Familie wusste. Bis nach Huntington Castle war es nicht mehr weit. Xavier würde also hier in dieser Gegend bleiben. Er würde sich als Jean Pierre bei ihrem Onkel einnisten und als Erbe von Huntington Castle regelmäßig seine zukünftigen Besitzungen abreiten. Konnte sie es riskieren, ebenfalls hier zu bleiben? Wenn sie sich nun aus dieser Gegend entfernte, gab sie endgültig alles auf. Aber gab es nicht einen leisen Funken Hoffnung? Ihre Familie war - wie alle adligen Familien - weitläufig. Konnte es nicht sein, dass irgendjemand doch überlebt und die Flucht nach England gewagt hatte, in der Hoffnung, bei dem Earl of Huntington Unterschlupf zu finden? Wenigstens bis in Frankreich die alte Ordnung wieder hergestellt war? Sie würden ganz sicher diese Straße nehmen, auf der sie gestern Abend mit Xavier geritten war. Vielleicht würden sie sogar in dem kleinen Gasthaus rasten, das sie in dem Ort an der Hauptstraße gesehen hatte. Ob sie dort wohl etwas zu Essen finden würde? Was hätte sie darum gegeben, wenn sie jetzt zu Hause in der Normandie eigenhändig ein Feuer machen dürfte!
In dieser ganzen Unsicherheit war ihr nur eines gewiß: Sie würde nie wieder jemandem vertrauen.
5. Kapitel - Clifford Inn
Jack Sherman stand im Hof des Clifford Inn und hackte Holz. Dies tat er mit Inbrunst, wobei sein Blick immer wieder auf die Tür fiel, hinter der sein Bruder Harold gerade verschwunden war. Nicht dass Harold jemals freundlich zu ihm gewesen wäre. Seit Jack denken konnte, malträtierten ihn sein Bruder und sein Vater William, und beide ließen keinen Augenblick einen Zweifel daran, wie sehr sie ihn hassten. ‚Hackklotz’ war noch einer der freundlicheren Namen, die sie ihm gaben. Heute früh war es besonders schlimm gewesen. Die Schläge des Vaters ertrug er mit bitterer Gelassenheit, doch dass Harold ihm unbedingt in sein Frühstück spucken musste, ging selbst für ihn zu weit. Er zeigte seinen Zorn nicht, wie er niemals eine Gefühlsregung zeigte. Schweigend hatte er Harolds Spucke aus seiner Schale gelöffelt und ins Feuer geworfen. Als er sich wieder umgewandt hatte, waren Mäuseköttel in seinem Brei geschwommen. Wortlos war er aufgestanden und hatte die Küche ohne Frühstück verlassen. Nun stand er da und hackte Holz. Die Sonne schien, das Holz würde gut trocknen, wenn das Wetter noch eine Weile so blieb, aber damit war um diese Jahreszeit nicht zu rechnen. Jack ließ die Axt auf einen frischen Holzklotz fallen, wobei er sich Harolds Kopf vorstellte. Harold. Sein großer Bruder, der ihm gerade bis zum Hals reichte. Als Kinder hatten sie oft gerauft, und Harold hatte seine Überlegenheit weidlich ausgenutzt - bis zu dem Tag, an dem sich das Kräfteverhältnis geändert hatte. Harold hatte aufgehört zu wachsen, als Jack damit noch längst nicht fertig gewesen war.
Harold versuchte immer wieder, wie weit er bei Jack noch gehen, wie tief er ihn demütigen könne, bis Jack sich wehrte. Diese Grenze dehnte Harold immer weiter aus, bis Jack es aufgab, sich zu wehren und stumm hinnahm, wenn Harold seine frisch gewaschenen Kleider hinaus auf den schmutzigen Hof warf, in seine Schuhe pinkelte und Lügen über ihn im Dorf umhertrug. Der Vater nannte ihn nur ‚Mörder’, niemals bei seinem richtigen Namen. Auch er war deutlich kleiner als Jack, hatte wie Harold blondes Haar, das bei ihm von grauen Strähnen durchzogen war, und die gleichen wässrig-blauen Augen. Jack war der Einzige in der Familie, der dunkle Augen und Haare hatte und von hünenhafter Statur war. Doch nicht nur deshalb wurde Jack allein alle schwere Arbeit auferlegt, sondern auch als Buße für eine Tat, die er ohne Wissen begangen hatte und die ihn bedrückte, auch ohne dass sein Vater und Bruder ihm seine Schuld wie Salz in eine offene Wunde rieben. Jack hob die Axt erneut, sie krachte in das Holz, die Scheite flogen zur Seite. Er wollte endlich fertig werden, denn heute war Donnerstag, der einzige Tag in der Woche, an dem er seinen wöchentlichen Lichtblick genießen konnte.
Gerade hatte er sich einen neuen Klotz aufgestellt und hob die Axt, da sah er, dass sich die Tür zum Hof öffnete. Harold kam wieder heraus und zerrte einen Jungen hinter sich her,