Frühling auf Huntington Castle. Imelda Arran
Augen gereist? Habt Ihr Euch niemals umgeschaut? Mit welchem Recht sprecht Ihr davon, dass nun mal alles so ist, wie es ist. Wie könnt Ihr es wagen, von einer göttlichen Ordnung zu sprechen?“
„Xavier, lassen Sie meinen Arm los, Sie tun mir weh!“ wimmerte Madeleine ängstlich, doch Xavier drückte nur noch fester zu und führte das Pferd dabei dichter an den Rand der Brücke. Madeleine sah das dunkle Wasser unter der Brücke. Es schien ein tiefer Fluss zu sein, denn ruhig floss das Wasser, gurgelte leise an den Brückenpfeilern, bewegte Fischerboote, die am Ufer lagen.
„Ich werde mir jetzt nehmen, was schon längst mir gehören sollte. Ich werde jetzt zu Eurem Onkel reisen als Jean Pierre, Duc de Valmont. Und glaubt mir, ich werde tiefste Trauer tragen, weil ich meine geliebte Familie an die scheußliche Revolution verloren habe.“
„Das werden Sie nicht wagen!“
„Oh, doch, das werde ich!“ knirschte er. „Und Ihr, meine Liebe, werdet jetzt Fischfutter. Aber selbst wenn Ihr dem Tod entgeht und bei Eurem Onkel aufkreuzt, werde ich ihm schon eine Geschichte von einem Überfall erzählt haben. Räuber haben mich überfallen - und einer von Ihnen sah ganz genau so aus wie Ihr! Und wem wird der Earl wohl glauben? Dem gut gekleideten Gentleman oder dem abgerissenen, stinkenden Burschen?“
„Ich weiß mehr über die Familie als Sie. Mein Onkel würde mir Fragen stellen, und dann wären Sie entlarvt!“
„Dann hat mir das böse Räuberpack eben auch die Briefe gestohlen, hat sie gelesen und versucht jetzt, noch mehr Geld zu schinden. Unsere Plauderei hat jetzt ein Ende - genau wie Ihr, Mademoiselle.“
„Xavier!“ schrie Madeleine in panischer Angst, da hob er sie aus dem Sattel. Madeleine klammerte sich an ihn. Er ohrfeigte sie, der Schmerz nahm ihr den Atem und sie wusste für einen Moment nicht mehr, wie ihr geschah. Sie fühlte die raue, kalte Mauer der Brücke an ihrem Rücken. Sie wollte sich an den Steinen festkrallen, doch Xavier hieb ihr auf die Hände. Er schob sie immer weiter, bis sie sich nicht mehr halten konnte und stürzte. Der Fluss schluckte sie in seinen kalten Schlund, um sie in seinen Tiefen mit sich zu reißen. Madeleine ruderte wild mit den Armen, rang sich zurück an die Oberfläche und schrie laut auf. Schemenhaft konnte sie Xavier auf der Brücke erkennen. Dort, wo Xavier stand, flammte kurz Licht auf, gleichzeitig hörte sie einen ohrenbetäubenden Knall. Er hatte auf sie geschossen! War sie verletzt? Hatte er sie getroffen? Sie fühlte nur das kalte Wasser an ihrer Haut, die Kleider, die an ihr klebten und sie hinab zogen. Da schlug das Wasser wieder über ihr zusammen.
3. Kapitel - Ankunft auf Huntington Castle
Huntington Castle lag am Huntington Lake auf einer Anhöhe. Zwei mehrstöckige Flügel erstreckten sich seitlich bis zu Wäldern, dazwischen ragte das Haupthaus mit einem säulengetragenen Vordach auf. Davor war ein Park nach dem neuesten Geschmack angelegt. Eine Allee führte direkt hinauf. Xavier hielt sich nicht auf mit dem schönen Anblick des hellen Schlosses, dessen zahllose Fenster in der Morgensonne aufblitzten, sondern trieb sein Pferd an. In den letzten Wochen hatte er sich so vollkommen in die Rolle eines Jean Pierre hineinversetzt, dass er beinahe selbst glaubte, es zu sein. Sein Leben als Leibdiener Xavier lag weit hinter ihm - es erschien ihm nur noch wie eine sonderbare Geschichte aus seiner Kinderzeit. Nun wollte er die Früchte seiner Arbeit ernten. Schon lange Jahre hatte er genau aufgepasst, hatte gelernt, sogar heimlich vor einem Spiegel die Gesten und Haltungen seines Herrn imitiert und einstudiert. Zuerst hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, hatte die feinen Gesten parodiert, ins Lächerliche gezogen und dabei eine hämische Freude empfunden. Ja, er hatte diese kleinen Übungsstunden immer genossen, nachdem er festgestellt hatte, dass allein die Haltung - eine Mischung aus Lässigkeit und Strenge - ihm das Gefühl von Überlegenheit und Herrschaft einflößte.
Dieses Gefühl hatte er sich immer wieder ins Gedächtnis gerufen; beim Reiten, Gehen, Essen... bis er vollkommen eins war mit diesem Gefühl.
Es gab keine Wachen, die ihn aufhielten, keine Zäune, nicht einmal Hunde, die anschlugen. Die englische Aristokratie fühlte sich offenbar sicher. Er ritt bis vor das große Portal, schritt ein paar Stufen hinauf und stand zwischen den Säulen, die das ausladende Vordach trugen. Wenn alles gut lief, würde das alles einmal ihm gehören. Ihm! Dem kleinen Xavier, dem Leibdiener des Duc de Valmont. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er kurz an seinen Vater dachte, der ihn ganz im Geiste des ewigen Dienens erzogen hatte. Dann straffte sich Xavier ein letztes Mal, um nun ganz und gar Jean Pierre, Duc de Valmont, zu sein.
Gerade wollte er klopfen, da wurde ihm die Haustür bereits aufgetan. Ein Butler erschien; sein Name war Hudson, wenn es noch derselbe war, den der Earl of Huntington in seinen Briefen erwähnt hatte.
„Sie wünschen?“
„Hudson? Sie sind Hudson, nicht wahr?“
Xavier merkte, dass dies wohl ein Fehler gewesen war. Einerseits hatte er zeigen wollen, dass er vertraut war mit den privaten Angelegenheiten des Earls, aber hier war er wohl doch etwas zu voreilig gewesen. Sofort sank er ein wenig in sich zusammen und sagte mit leiser Stimme: „Verzeiht die kleine Vertraulichkeit; nach meinen schrecklichen Erlebnissen in Frankreich bin ich überglücklich, einen zivilisierten Menschen zu treffen, der meiner Familie wahrhaftig treu dient. Ich bin Jean Pierre, Duc de Valmont. Ich möchte meinen Onkel sprechen.“
„Sehr wohl.Tretet ein und wartet bitte hier im Salon.“
Xavier folgte Hudson in einen Salon. Als der Butler verschwunden war, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Nun kam der entscheidende Moment, von dem alles abhing; nicht nur Reichtum oder Armut, sondern auch Leben oder Tod. Er hörte Schritte. Es waren die energischen Schritte eines mächtigen Mannes. Und dann stand der Earl of Huntington in der Tür: ein großgewachsener Mann, der die Fünfzig überschritten hatte. In seinen Gesichtszügen hatten sich Macht, Herrschaft und Reichtum von Generationen eingegraben, doch lag auch etwas Mildes in seinen Augen.
„Jean Pierre!“ rief er und breitete seine Arme aus. Xavier ließ es geschehen, dass der Earl ihn in die Arme nahm. In diesem Moment löste sich seine Anspannung und er konnte nur noch leise weinen.
„Ich danke Euch, Mylord. Ich bin so glücklich, endlich hier zu sein.“ Der Earl hielt ihn nun auf Armeslänge von sich; forschend schaute er ihm ins Gesicht. „Lassen Sie sich anschauen!“ Xavier hielt seinem Blick nicht stand, doch seine Tränen waren eine willkommene Ausrede: „Vergebt mir, Euer Gnaden; Ihr habt sicher schon gehört, was in Frankreich vor sich geht.“
„Aber ja! Wir haben uns schon die größten Sorgen gemacht. Kommen Sie, setzen Sie sich und berichten Sie mir.“ In diesem Moment betrat Lady Dorothy den Raum.
„Jean Pierre, sind Sie es wirklich? Ich kann es kaum glauben, dass Sie dieses Grauen überlebt haben. Uns haben die schrecklichsten Nachrichten erreicht. Sagen Sie uns, steht es wirklich so schlimm in Frankreich?“
Lady Dorothy war nur wenig jünger als ihr Gemahl, aber noch immer eine schöne Frau. Als sie sich neben Xavier setzte, nahm sie seine Hände in ihre und schaute ihn sehr mitfühlend an.
„Jean Pierre! Mein Gott, ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Ängste wir hier ausgestanden haben.Wir haben so viele Briefe geschrieben, aber keine Antwort mehr bekommen. Immer haben wir Ausschau gehalten, nicht wahr, mein Gemahl? Immer haben wir gehofft, dass Sie alle den Weg zu uns schaffen. - Dürfen wir denn annehmen, dass Sie die Vorhut sind und die Familie noch nachkommt?“ Ihre Stimme hatte etwas Flehendes.
Xavier senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Es tut mir so schrecklich leid, Mylady. Ich bin der einzige Überlebende. Meine Eltern, meine Schwester, mein Onkel Charles und die Tante...“ Xavier schluchzte auf und wunderte sich ein wenig über sich selbst, wie gut ihm die Vorstellung gelang. Dankbar nahm er den Whisky, den der Earl ihm hinhielt.
„Mylady!“ flüsterte der Earl liebevoll und legte seiner weinenden Gemahlin die Hand auf die Schulter. Auch er kämpfte mit den Tränen.
„Nun, Jean Pierre, berichten Sie uns.Wir wollen wissen, was geschehen ist, wie unsere Lieben gestorben sind.“ Seine Stimme klang bemüht fest.
„Sie