Das Zeichen für Regen. Jana Volkmann

Das Zeichen für Regen - Jana Volkmann


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      Jana Volkmann

      DAS ZEICHEN

      FÜR REGEN

      Roman

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      In Kyōto bin ich

      doch beim Schrei des Kuckucks

      sehn ich mich nach Kyōto

      Bashō

      1. TEIL

      1. Kyōto. Vor einem Jahr.

      Wenn man auf dem Kansai International Airport landet, fühlt sich das an, als fiele man ins Meer. Der Flughafen ist auf eine künstliche Insel gebaut, fünf Kilometer liegen zwischen den Terminals und dem Festland. Die Schiffe in der Bucht von Ōsaka, über die man hinwegfliegt, sehen gefährlich groß aus. Bootsführer drehen sich um, wenn über ihren Scheiteln eine Passagiermaschine im Sinkflug Richtung Boden braust, und sie wirken ein wenig entsetzt, jedenfalls sieht es danach aus, wenn man im Flugzeug sitzt und selbst ein wenig entsetzt ist.

      Irene erinnerte sich gut an das Gefühl beim Anflug, an den Schrecken und an die Angst vor dem Meer, an die Farbe des Wassers in der Bucht und an das Rumpeln der Tragflächen. Sie war zuvor nicht oft geflogen. Ihre Finger hielten sich an der Lehne fest. Die Landebahn bemerkte sie erst, als der Flieger aufsetzte. Ihr zweites Leben begann in dem Augenblick, als die Räder der Boeing 777 auf Asphalt trafen, die Maschine einen Ruck nach vorn machte und ihr klar wurde, dass sie schon an Land war, dass sie nicht ins Wasser stürzen und nicht ertrinken würde. Das war vor einem Jahr.

      Auf dem Weg vom Gate bis zu ihrem Koffer musste sie einen Shuttlezug nehmen. Sie lief hinter den anderen Passagieren her, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob diese den Weg kannten. Sie stellte sich hinter sie in die Schlange vor den Türen, drängte sich zu ihnen in den Zug, lief hinter ihnen her über Treppenstufen, Rollbänder, durch lange und kurze Gänge. Als sie schließlich mit den anderen Fluggästen am Gepäckband angelangt war, hatte sie gerade Gefallen daran gefunden, durch das Gebäude zu irren.

      Erst als sie ihren Koffer wiederbekommen hatte, den Pass mit ihrem Visum vorgezeigt hatte und die anderen Fluggäste verschwunden waren, als hätte es sie nie gegeben, da erst fühlte sie sich ein wenig allein. Sie fühlte sich immer noch allein, als sie im Zug nach Kyōto saß, am Bahnhof fühlte sie sich allein, in der U-Bahn. Und als sie ihre neue Wohnung aufschloss, merkte sie, dass das genau die Art von Alleinsein war, die sie sich gewünscht hatte.

      Sie stellte den Koffer ab und ließ sich auf das Bett fallen. Die Decke und das Kissen rochen noch ganz neu, ein wenig nach Plastikfolie. Auf der Bettwäsche zeichneten sich Falten in einem rechteckigen Muster ab. Die Vermieterin hatte sich offenbar nicht die Mühe gemacht, das Bettzeug zu waschen, aber Irene war das nicht wichtig. Je weniger Arbeit man sich mit ihr machte, desto wohler fühlte sie sich. Sie würde das Bettzeug einfach am nächsten Tag selbst waschen. Irene lächelte und lag mit offenen Augen wach, bis es dunkel wurde.

      Die Sonne ging in Kyōto viel eher unter als in Berlin, das war das erste, was sie über ihre neue Heimat lernte. Zuvor hatte sie nur gelesen. Dass der Kansai International Airport mitsamt seiner künstlichen Insel im Jahr fast fünf Zentimeter tiefer ins Meer sinkt, zum Beispiel. Und dass die Gebäude mitsamt der Treibstoffversorgung deshalb so angelegt sind, dass sie sich an diesen Höhenunterschied anpassen. Irene hatte im Flugzeug darüber nachgedacht, wie das gehen soll, und war zu keinem Ergebnis gekommen.

      Ihr Bett stand direkt unter dem Fenster. Sonst gab es hier nicht viel: einen Esstisch, der kleiner war als alle, die sie zuvor gesehen hatte. Eine Küchenzeile, die auch nicht eben groß war, und einen Schrank, in den sie in den kommenden Tagen ihre Kleidung einräumen würde, aber das eilte nicht. Irene setzte sich auf und stützte sich mit den Ellbogen auf die Fensterbank. Sie hatte auch gelesen, dass Kyōto, außer im Süden, von Bergen gesäumt war, aber sie hatte sich nicht vorstellen können, dass sie diese Berge jemals aus ihrem eigenen Fenster in ihrer eigenen Wohnung sehen würde. Sie schaute der Sonne beim Verschwinden zu und sah, wie die Gipfel im Zwielicht in den Himmel hineinflossen, bis sie nicht mehr davon zu unterscheiden waren, dann wurde sie müde.

      Sie schlief fest, weit in den nächsten Morgen hinein. Von der Zeitverschiebung spürte sie nichts, und als sie in der Frühe zum Getränkeautomaten an der nächsten Straßenecke ging, kam es ihr gar nicht so vor, als liefe sie den Weg zum ersten Mal. Sie entschied sich für eine Zitronenlimonade, ohne lange nachzudenken, und fand ihre Wahl gut. Sie wollte nicht gleich zurück in die Wohnung, und da sie nichts weiter zu tun hatte, lief sie durch ihre Nachbarschaft und kaufte sich ein paar dango zum Frühstück – kleine gegrillte Reisklöße auf einem Holzspieß. Man musste gar nicht sprechen, um sich zu verständigen. Sie zeigte auf die Spieße, hielt drei Finger hoch und gab einfach viel zu viel Geld, sodass sie in jedem Fall etwas wiederbekäme und das Rechnen in fremden Zahlen der Verkäuferin überlassen konnte. Es schmeckte andersartig und gut, ein wenig süß. Der Reis klebte ihr zwischen den Zähnen. Sie blieb hin und wieder vor Restaurants oder Geschäften stehen, versuchte Speisekarten und Preislisten zu entziffern und ließ sich im Rhythmus der Stadt umhertreiben, im Rhythmus der blinkenden Leuchtreklamen und des Strampelns der Radfahrer, der stöckelnden Schritte der Frauen und Mädchen, die auf hohen Absätzen aus Cafés kamen oder aus Bussen stiegen.

      Überhaupt fand sie ihre Wege in diesen ersten Tagen in Kyōto mit einer Sicherheit, die sie bei ihren Umzügen innerhalb Deutschlands nie gehabt hatte. Den Weg zur Post, zum Supermarkt, zur U-Bahn-Station: Sie brauchte sich nur aus dem Haus zu bewegen und loszulaufen. An die Wand neben ihrem Bett hängte sie einen Stadtplan und prägte sich die Straßen ein. Die Stadt erschien ihr außergewöhnlich symmetrisch, die meisten Wege waren im Schachbrettmuster angelegt. Wie New York, dachte Irene, und der Gedanke hatte etwas seltsam Tröstliches – zu wissen, dass auf ganz anderen Erdteilen ganz andere Städte lagen, durch deren Straßen ganz andere Leute liefen und dass sie dennoch mit einer Wahrscheinlichkeit von überwältigenden fünfundzwanzig Prozent in dieselbe Himmelsrichtung liefen wie sie.

      Sie vermisste nichts und staunte nicht übermäßig über alles, was in Kyōto anders war. Weder über die Zebrastreifen, mit denen man große Kreuzungen diagonal überqueren konnte, noch über die vielen Fahrräder. Auch nicht über den Linksverkehr oder die Kinder in Schuluniformen. Es war, als fänden die Wege sie und als fände Japan sich in ihr zurecht, nicht umgekehrt. Jedenfalls kam es ihr heute so vor, wenn sie an die Tage nach ihrer Ankunft dachte. Sie wusste, dass sie sich viel fremder hätte fühlen müssen, dass es nur natürlich gewesen wäre, wenn sie inmitten der Straßenschluchten und der Autos, die links und rechts an ihr vorüberzogen, die Orientierung verloren hätte. Stattdessen fühlte sie sich, als habe sie die Stadt bereits gekannt, lange ehe sie dort angekommen war. Ein eigenartiges Gefühl des Erinnerns begleitete sie durch diese ersten Tage.

      2. Kyōto. Heute.

      Irene schob den Wagen mit dem Bettzeug, den frischen Handtüchern und all dem Putzmittel über den Teppich auf dem Flur. Es erschien ihr unsinnig, hier einen so weichen Teppich zu verlegen, aber es erschien ihr sowieso vieles unsinnig an ihrem Job, also dachte sie nicht weiter darüber nach.

      Die Anstellung als Zimmermädchen hatte sie über einen Freund bekommen. Timo war Japanologe und hatte ihr von Berlin aus Kontakte nach Kyōto vermittelt, er kannte jemanden im Hotel Kikka, irgendwen im Personalmanagement. Er hatte ein paar Anrufe gemacht und ein Empfehlungsschreiben aufgesetzt. Irene war es unangenehm gewesen, dass er sich so hatte ins Zeug legen müssen, aber es war ihre einzige Chance gewesen, ohne größere Schwierigkeiten nach Japan zu gelangen. Er hingegen hatte sich ein wenig geschämt, ihr nichts Besseres bieten zu können, und gemeint, wenn sie erst mal selbst vor Ort wäre, könnte sie sich ja gleich nach etwas Besserem umsehen. Für ein paar Monate sei es sicher ganz in Ordnung. Nun waren es schon zwölf Monate, die sie hier arbeitete. Irene konnte sich gar nichts anderes mehr vorstellen. Ihr Studium war noch nicht lange vorbei, aber es erschien ihr wie ein anderes, altes Leben. Wie sich das damals angefühlt hatte, im Seminar zu sitzen oder


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