Das Zeichen für Regen. Jana Volkmann
große Überraschungen erwartete sie nicht von ihm.
»Sag mal, Toshio-san, in 1009, wer wohnt da? Ich dachte, ich hätte einen Schauspieler aus dem Zimmer gehen sehen, aber ich weiß den Namen nicht.«
Irene sprach langsam und deutlich. Sie hatte die japanischen Sätze auf dem Weg nach unten in ihrem Kopf zurechtgelegt und mehrmals stumm wiederholt. Sie fand, dass sie richtig und verständlich klangen, und dass es legitim war, nach einem Gast zu fragen, wenn derjenige womöglich berühmt war. Außerdem war ja nicht ausgeschlossen, dass der Mann tatsächlich Schauspieler war. Toshio tippte etwas in seinen PC.
»Nein, das kann nicht sein.«
»Weshalb nicht?«
»1009 steht leer, seit drei Tagen schon. Ist erst morgen wieder belegt. So ist das außerhalb der Saison«, sagte Toshio und runzelte die Stirn, wie nur er das konnte, in ganz feinen Fältchen. Irene traute sich nicht, noch mal nachzufragen und ihn zu bitten, das langsam und ganz deutlich zu wiederholen, falls sie ihn nicht richtig verstanden hatte.
»Achso«, sagte sie nur und bemühte sich, dass das nicht allzu deutsch klang.
5. Kyōto. Heute.
Irene gab sich Mühe, bei der Arbeit nicht an den Mann und die Begegnung in Zimmer 1009 zu denken. Es gelang ihr nicht, nichts konnte sie ablenken, nichts fand Platz in ihren Gedanken, niemand außer ihm. Ein paar Tage lang kümmerte sie sich um andere Räume auf anderen Fluren, kehrte nicht in 1009 zurück, ein freier Tag verstrich, sie hatte keine Ahnung wie. Irgendwie. So, wie eben alle Tage irgendwie verstrichen.
Als sie den Raum danach zum ersten Mal aufschloss, wusste sie nicht, was schlimmer wäre: dort keinerlei Spuren des Mannes zu entdecken oder seine Sachen vorzufinden oder ihn wiederzutreffen. Sie hatte Angst, sich den Mann bloß eingebildet zu haben, dass er ein Hirngespinst war, eine fixe Idee, genau wie das Orchester unter der Decke im Flur oder die Gestalten in ihrer Seifenoper.
Sie hatte Angst, dass sie vergessen hatte, was wirklich war und was nicht. Sie hatte Angst, dass sie dieses Mal, wäre er noch da, seinen Koffer durchsuchen würde, seinen Namen herausfinden würde, Kontakt aufnehmen und machen würde, dass sie sich ineinander verliebten. Sie hatte Angst, dass sie Kontakt aufnehmen und auf sein Desinteresse stoßen würde, und Angst, dass am Ende sie die einzige wäre, die sich verliebt.
Sie fand weder ihn noch sein Gepäck vor. Toshio hatte offenbar recht, zumindest, was den neuen Gast anging, der in 1009 eingezogen war: Da war ein anderer Koffer, Kleidungsstücke hingen über der Sessellehne, ein Pyjama lag gefaltet auf dem Bett, die Vorhänge waren geöffnet und gaben den Blick frei auf die Stadt; dunstig und diesig drückte der Himmel auf die Dächer, in einer Farbe, die keine Himmelsfarbe zu sein schien und die Irene nicht benennen konnte. Gelblich, ein wenig bräunlich vielleicht, sehr hell. Je länger sie den Himmel betrachtete, desto heller wurde er, bis er fast weiß aussah. Die Berge waren verhangen. Sie wirkten weiter weg als sonst.
Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz, den sie vom Fenster aus sehen konnte, liefen Leute. Sie sahen einander ähnlich. Blaue und schwarze Anzüge, blaue und schwarze und graue Röcke, schwarze Haare, Rollkoffer, Aktenkoffer, Aktentaschen. Auf einmal erschien Irene die Stadt nicht mehr wohlgeordnet mit ihren Nord-Süd-Achsen und dem weiten Blick in die Straßenschluchten, sie sah nur noch Menschen durcheinanderlaufen und hörte, wie ein Busfahrer hupte, aber es war nicht festzustellen, woher genau das Geräusch kam. Gegenüber, am Kyōto Tower, blinkte eine Leuchtreklame Schriftzeichen in den Himmel. Von einem Wagen am Straßenrand wurde mithilfe eines Megaphons eine Werbebotschaft verlesen, durch das geschlossene Fenster drang Gemurmel. Im Zimmer nebenan unterhielten sich mehrere Menschen, oder es lief der Fernseher.
Irene wischte das Fenster, als könne sie so den Himmel dahinter sauber machen, als läge da hinter der gelbbrauntrüben Färbung eine richtigere Farbe, ein echtes Blau, und als müsse sie einfach nur abstauben, herrichten und schön machen, damit man es wieder sieht. Sie reinigte Zimmer 1009 gründlicher als alle anderen und gewissenhafter als jemals zuvor. Sie zog die Düse des Staubsaugers ab und saugte an den Fußleisten entlang, klopfte die Sesselpolster aus, wischte hinter dem Fernseher, unter dem Telefon und in der Nachttischschublade. Wischte die Fugen der Fliesen im Bad ab, die Armaturen, die Abzugshaube, den Mülleimer, den anderen Mülleimer, einen dritten Mülleimer, die Türklinke und die Tür.
Der Mann war nicht da.
Irene fuhr an diesem Tag nicht wie sonst mit der U-Bahn, sondern ging zu Fuß nach Hause. Die Aussicht, die Rolltreppen zu nehmen, um durch das unterirdische Kaufhaus hindurch zur Bahn zu gelangen, sich zu anderen Heimkehrenden und Wegfahrenden in einen Waggon zu stellen, unter der Erde, unter den Straßen und Häusern und Tempeln, war ihr unbehaglich. Sie sehnte sich nach draußen, nach der drückenden Hitze, nach etwas Echtem, wie der hohen Luftfeuchtigkeit und den hohen Temperaturen. Und nach ein wenig Weite, nach natürlichem Licht, zügigen Schritten und der Möglichkeit zu rennen, wenn einem danach war.
Sie hatte gelesen, dass der Bahnhof jeden Tag von fast zweihunderttausend Menschen genutzt wurde. Ihr erschien das ungeheuer wenig in Anbetracht der Massen, die dort hinein- und hinausgingen oder einfach herumstanden. Es war immer voll dort, Ruhephasen schien es nicht zu geben.
Sie durfte den Haupteingang des Hotels nicht nutzen, der war den Gästen vorbehalten. So musste sie beim Verlassen des Hotels nicht durch die Bahnhofshalle. Normalerweise war das ein Umweg, und es erschien ihr unangemessen, dass ausgerechnet die Menschen, die hier im Kikka arbeiten mussten und keinen Urlaub machten, nach Feierabend nicht einmal den kürzesten Weg zur U-Bahn nehmen durften. Heute aber kam ihr dieser Umweg gelegen.
Sie hatte keine Lust auf Menschen, kein Bedürfnis nach Leben und Lärm. Dort, wo sie aus dem Hotel und hinein in die Stadt trat, standen Taxis. Einige Fahrer pausierten. Einer lehnte rauchend am Wagen, ein anderer telefonierte, ein dritter sah Irene mit einem Blick an, mit dem sie nichts anfangen konnte. Vielleicht war er interessiert. Er blickte eindringlich. Zudringlich. Aber da war noch etwas anderes, eine eigenartige Gleichgültigkeit, die zu dem Starren nicht passen mochte. Vielleicht war er gelangweilt. Dieser Widerspruch wurde nicht geringer, je länger Irene den Blick erwiderte. Schließlich riss sie ihre Augen von seinen weg, richtete sie auf die Straße, die Berge, die Häuser, und sie lief los.
Der Weg führte sie durch Wohngegenden. Kyōto sah trist aus, hier, wo es keine spektakulären Kaufhäuser gab oder Tempel oder Schreine, keine Gärten. Die Straßen waren eng. Auf einem Parkplatz stand ein Getränkeautomat. Irene entschied sich für einen Traubensaft, er schmeckte klebrig, zu süß, zu kräftig, nach überreifen Früchten, zu lange in der Sonne gehangen. Aus irgendeinem Grund dachte sie an Portwein, während sie den schmalen Gehweg entlanglief, dabei schmeckte Portwein ganz anders. Der Geschmack der Trauben hing an ihrem Gaumen fest. Sie holte ihren Spiegel aus der Tasche und streckte sich die violette Zunge heraus. Ihr war übel, eigentlich hätte sie jetzt gern einen grünen Tee gehabt, oder einfach ein Glas Wasser. Die Entfernung kam ihr nun viel zu weit vor, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie zur nächsten U-Bahn-Station kommen würde, also lief sie einfach weiter, orientierte sich an den Bergen in der Ferne, an den Himmelsrichtungen der Straßen, und am Kamogawa, dem Fluss, an dessen Ufer sie eine Weile gehen musste.
Das Wasser war braun, in ein sattes Grün gehend, und es war kaum zu erkennen, in welche Richtung die Strömung führte. An der gegenüberliegenden Uferseite saß ein Paar. Es sah aus, als würden sie gemeinsam in einer Zeitschrift lesen, Schulter an Schulter, aber aus der Ferne war das nicht genau zu erkennen.
Von einer Brücke aus warf sie die halbvolle Flasche Traubensaft in den Kamogawa. Die Flasche verschwand für einen Augenblick im Fluss, dann tauchte der violette Deckel wieder auf und trieb gemächlich davon. Ein älterer Mann sah Irene verständnislos nach, als sie auf ihrer Uferseite in den Straßen verschwand, und sie verstand selbst nicht, was sie tat; es war nun nicht mehr weit bis zu ihrer Wohnung, und sie versuchte, sich an das Gesicht des Mannes aus Zimmer 1009 zu erinnern, aber es gelang ihr nicht, nur ganz grob hatten seine Züge sich in ihr Gedächtnis hineinskizzieren lassen. Sie würde ihn kaum erkennen, würde er ihr auf der Straße begegnen. An seine Haltung erinnerte sie sich, an die Bewegung, mit der er die Decke über seinen Oberkörper gezogen hatte, nachdem