Das Zeichen für Regen. Jana Volkmann

Das Zeichen für Regen - Jana Volkmann


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Zimmer waren alle gleich geschnitten, mit ein paar wenigen Variationen bei der Größe der Betten; in den Bädern lagen immer die gleichen kleinen Kästchen mit Haarbändern, Zahnbürsten und Kosmetika, die es aufzufüllen galt. Die Arbeit im Hotel war nicht unbedingt einfach, aber wenn man erst mal den Dreh raus und eine gewisse Routine entwickelt hatte, machte sie sich trotzdem fast von allein. Nach einer Weile überließ sie die Arbeiten ganz ihrem Körper, in dessen Gedächtnis sich die Bewegungen so sehr eingeprägt hatten, dass Irene sich mehr oder weniger heraushalten konnte.

      Manchmal, wenn ihr langweilig war, überlegte sie sich Geschichten über amouröse Verstrickungen zwischen den Hotelgästen, so dass daraus eine kleine Seifenoper nur für sie selbst wurde. Bei jeder Schicht erzählte sie sich die neuste Folge. Der Mann in 1331 hatte in ihrer Vorstellung nicht ohne Grund ein Zimmer für zwei gebucht. Die Frau aus 1204, die so unglücklich aussah, als sie sie auf dem Flur grüßte, schlief nämlich in Wahrheit gar nicht in 1204. Der Mann aus 1204 bekam in Irenes Seifenoper nichts davon mit, weil er jeden Abend den teuersten Whiskey aus der Minibar trank und selig schlief, während seine Frau mit dem Geschäftsmann ein romantisches Date im dreizehnten Stock hatte. Frau 1204 und Herr 1331 blickten Arm in Arm aus dem Fenster auf die Stadt, betrachteten den eigentlich nicht sehr ansehnlichen Kyōto Tower und die Berge in der Ferne. Dann sahen sie einander lang und intensiv in die Augen, ehe Frau 1204 wieder zurück in den zwölften Stock musste, zurück zu ihrem unerträglichen Mann.

      Oder sie stellte sich vor, dass die Musik auf den Fluren nicht aus Lautsprecherboxen kam, sondern dass ein winziges Orchester direkt unter der Decke saß und Vivaldi oder Beethoven spielte. In letzter Zeit hatte sie angefangen, hin und wieder den Lautsprechern in der Decke zuzuzwinkern, wenn sie den Rollwagen über den Flur schob. Sie dachte dann an Kafkas Josefine, die kleine Mäusesängerin, und sehnte sich ein wenig nach ihrem Bücherschrank, den es nun nicht mehr gab. Sie hatte kein einziges Buch mit nach Japan genommen.

      Die thailändischen Zimmermädchen sprachen thailändisch miteinander, die Indonesierinnen indonesisch und die Philippinerinnen Tagalog. Die einzige Brasilianerin sprach mehr oder weniger mit niemandem, so wie Irene. Aber aus all dem Sprachgewirr hoben sich immer wieder japanische Worte ab, die Irene teils verstand, teils einfach aufgrund ihres Klangs als Japanisch erkannte. Außer ihr konnten alle gut genug nihongo, um sich ausgiebig auszutauschen, und es gab viele japanische Zimmermädchen. Sie hatten ihr zu Anfang beigebracht, sich zu verbeugen und den Hotelgästen freundlich zu danken, obwohl ihr nie ganz klar war, wofür, denn die meisten Hotelgäste hinterließen die Zimmer in einem Zustand, der nicht besonders dankenswert war. Ihre Sprachkenntnisse reichten aus, um die Wünsche der Gäste entgegennehmen und erfüllen zu können, aber ihre eigentliche Aufgabe war, Wünsche zu erfüllen, bevor sie geäußert wurden. Die meiste Zeit wischte sie Staub, wechselte Laken und putzte Bäder. So gern sie ihr Alleinsein mochte, manchmal hätte sie gern besser Japanisch gesprochen. Nicht unbedingt um sich an den Unterhaltungen um sie herum zu beteiligen, eher um sie zu verstehen. Sie war sicher, dass die anderen Zimmermädchen einander alles erzählten, was sie bei der Arbeit erlebten. Wenn sie Sexspielzeug in den Zimmern gefunden hatten, zum Beispiel. Wenn jemand ein besonders großzügiges Trinkgeld gab. Wenn alles danach aussah, als habe sich eine ganze Familie in einem Einzelzimmer einquartiert, vom Baby bis zur Großmutter. Wenn ein männlicher Gast eine ganze Kollektion von Pumps in großen Größen im Vorraum drapierte. Wenn einer wie George Clooney aussah, oder wie der japanische Premierminister, dessen Namen Irene einfach nicht behalten konnte. Sie versuchte, alle wichtigen Namen auswendig zu lernen. Die von ihren Kolleginnen und von den Portiers, natürlich die ihrer Vorgesetzten, und in dieser Liste wichtiger Personen war irgendwie auch der Premier gelandet, obwohl er dort nicht wirklich etwas verloren hatte.

      Wäre in dem Jahr, das sie nun hier in Kyōto verbracht hatte, ein neuer Premierminister gewählt worden, hätte sie das vielleicht gar nicht mitbekommen. In Japan wurde häufig neu gewählt. Wegen der Rücktritte, die wiederum oft wegen Korruptionsaffären zustande kamen. Vielleicht versuchte sie schon seit Monaten, sich einen Namen einzuprägen, der gar nicht mehr aktuell war. Es kam vor, dass Irene auch über solche Dinge nachdachte, während sie Bettlakenzipfel unter Matratzen packte, Fernsehschirme abwischte oder Toilettenbrillen desinfizierte. Es störte sie nicht, dass ihr die aktuelle politische Lage derart unklar war.

      Wenn sie gewollt hätte, hätte sie jederzeit nachsehen können, wer gerade welches Amt bekleidete, sie hätte sich einen schnellen Überblick über die Parteien und ihre Vertreter machen und dieses Wissen mit halbwegs wenig Aufwand auf dem neusten Stand halten können. Sie war nie besonders interessiert an solchen Dingen gewesen und konnte, wenn sie ehrlich war, auch das deutsche Kabinett nicht herunterbeten. Aber dieser blinde Fleck, der alles Aktuelle, alles Relevante, die ganze Gesamtgesellschaft aus ihrer Wahrnehmung strich, ließ sich nicht darauf zurückführen, dass sie nicht wusste, wo es am Bahnhof internationale Zeitungen zu kaufen gab. Die englischsprachige Ausgabe der Asahi Shimbun, USA Today, der Guardian, selbst die Süddeutsche: Auf ihrem Heimweg kam sie jedes Mal an zig Läden vorbei, in denen sie sich mit Zeitungen eindecken könnte, die sie verstehen würde. Sie fegte noch dazu an jedem Arbeitstag zig Zeitungen in die Hotelpapierkörbe, unbesehen, unaufgeschlagen, mit der gleichen lässigen Wischbewegung wie für leere Starbucks-Becher, gebrauchte Taschentücher und Nigiri-Verpackungen. Die russische Vogue, wisch und weg. Danke und auf Wiedersehen, Zeit-Magazin. Sayōnara, New Economist. Die ganze internationale Presse wanderte hier Tag für Tag in den Müll. Irene fühlte fast so etwas wie Erleichterung dabei. Hier durfte sie sich ein ganzes Universum nach ihren eigenen Maßstäben zusammenstellen, und niemand könnte ihr einen Vorwurf daraus stricken, dass sie sich nicht um politische Themen, aktuelle Themen und alle möglichen anderen Themen scherte. Weil sie ja auch mit niemandem darüber sprach und niemand auf die Idee kam, sie nach einer Meinung zu irgendwas außer dem Wetter zu fragen. Manches war wesentlich einfacher geworden, seit sie hier in Japan war.

      Die meisten Gespräche, die Irene führte, beschränkten sich auf höfliche Floskeln, von denen sie sich nie ganz sicher sein konnte, ob sie wirklich angemessen waren. Es gab so vieles zu beachten, und noch immer kämpfte sie mit den Silben. Bei der Arbeit brauchte sie zum Glück nicht viel zu sprechen. Irasshaimase, arigatō gozaimashita, wakarimasen. Doitsujin desu, sagte sie manchmal, ich bin Deutsche. Wie eine Entschuldigung. Dann sagte ihr Gegenüber meist etwas, das wie »achso« klang und genau dasselbe bedeutete, und in diesen Momenten wäre sie gern anderswo gewesen, wo sie dieselbe Sprache sprach wie alle und andere Leute ohne Mühe verstand. Aber wenn sie dann, die Arbeitskleidung gegen Jeans und T-Shirt getauscht, das Hotel Kikka hinter sich ließ und in ihr neues Leben hineinlief, dann war sie wieder ganz sicher, dass sie hier richtig war.

      Bevor sie in Ōsaka gelandet war, hatte sie Japan nur aus ihren Büchern gekannt. Sie hatte sich in Banana Yoshimotos Tsugumi und in Yōko Tawada verliebt, viele Stunden versucht, Haruki Murakamis rätselhafte Romanfiguren zu entschlüsseln und hinter das Geheimnis ihrer Ohren zu kommen, hatte dank eines Romans von Yōko Ogawa mit dem Schachspielen begonnen (und es bald darauf wieder bleiben lassen, hauptsächlich weil niemand gegen sie antreten wollte), und sie war mithilfe von Ryūnosuke Akutagawas Kurzgeschichten durch die Vergangenheit ihres Wunschortes gereist. Damals hatte sie nicht für möglich gehalten, dass es dieses Japan tatsächlich geben könnte, jedenfalls nicht so, wie es in ihrer Vorstellung existierte. Sie hatte gedacht, sie könne sich dem richtigen, tatsächlichen Japan bestenfalls mit Mäuseschritten nähern. Nur um jedes Mal, wenn sie etwas Neues über das Land und das Leben dort lernte, zu begreifen, wie unzureichend ihre Vorstellung war.

      Die japanischen Romane hatte sie bei ihrer Abreise an ein Antiquariat verschenkt, und viele andere Bücher auch. Manche konnte sie verkaufen, nicht so, dass sie davon reich geworden wäre, aber immerhin. Timo überließ sie alle, die er haben wollte; einen anderen Stapel Bücher packte sie in einen Pappkarton, mit dem Vermerk, dass sie zum Mitnehmen seien. Die Rücken nach oben, so dass man die Titel sehen konnte. Sie stellte sie einfach an die Straße, auf die oberste Stufe der Treppe, die zu ihrer Haustür führte. Sie standen nicht lange dort. Selbst die Kiste fehlte, als Irene beim nächsten Mal das Haus verließ.

      Die Bücher blieben


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