Das Zeichen für Regen. Jana Volkmann

Das Zeichen für Regen - Jana Volkmann


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nur dass dieses Gefühl über die Jahre immer festere Formen angenommen hatte, immer drängender geworden war. Für sie war der Schritt nach Japan ein ganz logischer, auch wenn kaum jemand ihre Entscheidung nachvollziehen konnte. Sie konnte sich dort nicht fremder vorkommen als in Berlin.

      3. Berlin. Früher.

      Irene lag auf dem Rücken, die Hände ruhten auf ihrem Bauch. Sie war erleichtert, dass er so bald nach dem Sex eingeschlafen war, aber Irene selbst war danach umso wacher, ihr Körper umso unruhiger gewesen. An Schlaf war nicht zu denken. Nicht mit diesem Mann neben ihr, nicht in dieser Luft, die so verbraucht roch, nach ihnen beiden, nach der Nacht, die noch nicht vorbei war. Am liebsten hätte sie das Fenster geöffnet, aber sie mochte ihn unter keinen Umständen wecken. Draußen war es sicher laut. Er wohnte an der Gneisenaustraße, im Vorderhaus, erste oder zweite Etage. Da war immer Verkehr, und um diese Zeit würden genug Leute auf dem Heimweg sein, die nach dem letzten Bier keine Ahnung mehr hatten, wie laut sie sich unterhielten. Würde der Mann jetzt wach werden, würde er sie berühren, vielleicht sogar noch mal mit ihr schlafen wollen. Oder er würde sie in die Arme nehmen, in ihren Nacken atmen und seinen Bauch an ihren Rücken drücken. Manche wollten das. Irene ließ das Fenster geschlossen. Sie hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt und sah den Stuck an der Decke an, bis das Muster vor ihren Augen verschwamm.

      Der Mann hieß Carsten, aber es war Irene lieber, nicht an seinen Namen zu denken, sondern einfach an den Mann, ein unbestimmter Mann mit einem bestimmten Artikel. Er sah allerdings eher aus wie ein alter Junge, wie er da grauhaarig und mit Stoppelbart unter seiner Decke lag. Das Muster der Bettwäsche war ausgeblichen.

      Irene stellte sich vor, wie er in seinem Elternhaus in derselben Bettwäsche geschlafen hatte, vielleicht in einem Dachzimmer mit Konzertplakaten von Bands an einer vertäfelten Wand, nur dass die Bands damals wahrscheinlich Gruppen hießen. Vielleicht hatte er selbst in einer Gruppe gespielt, Bass oder Schlagzeug. Kein Gesang, keine Gitarre, das passte nicht. Der Bass passte. Wahrscheinlich war er ein cooler Junge gewesen, nachdenklich und interessant, rebellisch, unbeirrt, ein wenig zu ernst vielleicht, vielleicht zu wütend. So einer, von dem man nie angenommen hätte, dass sein Leben irgendwann so traurig werden würde, dass er Mädchen wie Irene mit in seine Wohnung nehmen musste und ihnen verlegen erklärte, die Bilder an der Wand habe seine Nichte gemalt. Dabei hätte Irene nie um eine Erklärung gebeten. Sie wollte gar nicht wissen, wessen Kind das war, das diese Häuser und Schmetterlinge gemalt hatte. Als gingen sie einander irgendetwas an.

      Den Mann hatte sie ein paar Tage zuvor im Café getroffen. Das passierte Irene selten, eigentlich war es so gut wie nie vorgekommen, dass sie einfach so angesprochen wurde. Sie sah nicht übel aus, achtete auf ihren Körper, kleidete sich nicht gerade auffällig, aber mit den Jahren hatte sie so etwas wie einen eigenen Stil entwickelt, der einem etwas kritischen, kennenden Blick durchaus eine Weile standhalten konnte. Aber irgendetwas schien nicht zu stimmen mit ihr.

      Stattdessen suchte sie ihre Dates oft über das Internet, schrieb Männer an, ließ sich anschreiben, antwortete und wartete auf Antworten. Das konnte sie, sie schrieb gut, lockte mit Worten, machte sie neugierig mit drei, vier Sätzen. Es funktionierte. Wenn sie schrieb, war sie interessant. Vermutlich schien sie dann klüger, als sie war. Sprechen lag ihr weniger. Sie wirkte oft spröde auf Fremde, wie eine, bei der es viel Mühe kosten würde, ihr nahezukommen, und bei der man nie sicher war, ob sich diese Mühe lohnen würde.

      Einer, der ihr wichtig war, hatte ihr einmal gesagt, sie sehe aus wie jemand, der andere traurig macht. Den Satz vergaß sie nicht, sie war überzeugt, dass er stimmen musste. Jetzt, da sie in dem fremden Bett lag und ihre Gedanken kreisten, hallten die Worte in ihr nach. Sie tat Männern nicht gut. Den Mann, der jetzt neben ihr schlief, hatte das womöglich nicht gestört, aber viel wahrscheinlicher war, dass er es gar nicht erst bemerkt hatte. Oder dass er einfach schon vorher traurig genug gewesen war. Er hatte noch am selben Abend angerufen, es war unkompliziert mit ihm. Sie ließ ihn erzählen, von seiner Arbeit, von seinen Freunden, und er fragte sie nach ihrem Studium aus, so lange, bis er merkte, dass es ihr unangenehm war, davon zu sprechen. Er gab ihr das Gefühl, interessant und begehrenswert zu sein, und an diesem Abend hatten sie sich zum Essen verabredet. Wieder war alles ganz einfach. Im Grunde genommen war es immer einfach, wenn Irene sich auf solche Verabredungen einließ. Sie hatte sich ein Kleid und die hohen Schuhe angezogen, sie tranken beide Wein, und als es zu kühl wurde, um draußen zu sitzen, war längst klar, dass sie mit zu ihm kommen würde.

      Sie hatten sich vor seiner Wohnungstür geküsst, sie hatte nicht warten wollen, bis er aufgeschlossen hatte, und drinnen hatte sie sich ausgezogen. Sie hatte das Kleid über den Kopf gezogen, war aus dem Slip gestiegen und ließ die Schuhe an bis zum Schluss. Sie gefielen ihm. Irene gefiel ihm. Sie war nicht mehr sicher, ob sie gesprochen hatten, seit sie aus dem Restaurant weggegangen waren. Er hatte sie aus der Distanz betrachtet, ehe er auf sie zukam, noch immer angezogen, und sie ins Schlafzimmer führte. Er war auch noch angezogen, als er ihre Brüste streichelte, sie küsste, dort, überall; er spreizte ihre Beine und leckte sie. Er machte das gut. Ihr gefiel, wie gierig er war. Sie hatte ihn viel zögerlicher eingeschätzt. Und ungeschickter. Erst als es ihr gekommen war, zog er sich auch aus.

      Irene war jedes Mal erstaunt, wie anders Menschen aussehen, wenn sie nackt sind, und wie anders ein Gesicht aussieht, wenn es sich nähert, um einen zu küssen. Als hätte das Gesicht, das einen küssen will, nichts zu tun mit dem Gesicht, das mit sicherem Abstand spricht, lacht und isst. In dem Moment, als er seine Kleidung ablegte, sie küsste und zu sich zog, um in sie einzudringen, da gefiel ihr der Mann sogar ein bisschen.

      Nun fiel Sonnenlicht zwischen den Vorhängen ins Zimmer. Es wurde früh hell, und innerhalb weniger Minuten war die Nacht vorbei. Der Mann drehte sich zu Irene um und legte seine Hand um ihre Taille. Es fühlte sich richtig an, als ob seine Hand und ihre Taille ganz selbstverständlich zusammengehören würden, und er streichelte sie eine Weile, ehe er zu sprechen begann.

      »Wie magst du deinen Kaffee?«

      Der Mann hatte Schlaf in den Augen und seine Haare lagen platt an der Seite seines Kopfes. Er wirkte ausgeruht. Und glücklich, oder wenigstens nicht traurig. Irene machte sich trotzdem nichts vor. Ihr war klar, dass sie nicht bei ihm bleiben und ihn nur wieder enttäuschen würde. Aber für einen kurzen Moment färbte seine Freude auf sie ab, sie war zufrieden, weil er es auch war, und sie lächelte.

      »Schwarz, bitte.«

      Er brachte ihr die Tasse ans Bett und strahlte sie an wie jemand, der ein Lob erwartet, weil er etwas Großartiges gemacht hat. Um seine Augen herum zeichneten sich Falten ab, wenn er so leise vor sich hin lachte.

      Irenes Blick fiel auf die Bilder an der Wand, die Kinderzeichnungen. Manchmal genügte so ein Augenblick, so eine Kleinigkeit, die störte, obwohl sie gar nicht wichtig war, um Irene daran zu erinnern, dass sie nirgends bleiben wollte. Irgendetwas hielt sie immer fern, von allen. Auf einem der Bilder war eine grüne Wiese mit einem Baum, dieses hatte sie am Abend noch nicht gesehen. Sie fragte sich, warum das Kind keine Menschen malte. Die meisten Kinder, die sie kannte, malten ihre Eltern oder ihre Geschwister, oder irgendwelche anderen Kinder. Hier waren nur verlassene Häuser und Wiesen und lachende Schmetterlinge. Irene glaubte nicht, dass sie das Kind besonders mögen würde.

      »Du, ich muss bald los. Bitte entschuldige. Danke für den Kaffee, der tut gut. Und danke, dass ich hierbleiben durfte.«

      Er wollte sich seine Enttäuschung nicht anmerken lassen, tat es aber doch, jedenfalls glaubte Irene, sie ganz deutlich zu sehen. Sie mochte die Stimmung nicht, die nun zwischen ihnen entstand; sie mochte ihr Weggehen nicht begründen und seine Traurigkeit nicht länger sehen. Sie ging ins Bad, schloss die Tür hinter sich ab und setzte sich auf eine Wäschetruhe. Sie hatte weder eine Zahnbürste dabei noch irgendetwas anderes, das sie hätte gebrauchen können, um die letzte Nacht von ihrem Körper zu waschen, zu putzen oder zu schrubben, aber der Platz auf der Truhe war ihr für den Augenblick trotzdem recht. Unter dem Deckel lugte ein weißer Zipfel hervor. Irene erhob sich und zog daran; es war ein T-Shirt. Sie grub ihr Gesicht tief in den Baumwollstoff und atmete ein. Er war weich und roch gut. Nach Waschmittel, der Haut des Mannes, nach seinem Duschgel, ein wenig verschwitzt. Sie faltete es zusammen, rollte das gefaltete T-Shirt wiederum auf,


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