Das Zeichen für Regen. Jana Volkmann
Erdgeschoss ihres Wohnhauses war ein kleines Café, das vor allem von jungen Japanern besucht wurde. Studenten und Studentinnen, vielleicht gingen auch einige noch zur Schule. An einem Tisch gleich am Fenster saß ein einsamer Mann, jedenfalls sah er einsam aus, nicht wie jemand, der auf eine bestimmte Person wartet. Als er den Kopf zur Seite neigte, während Irene an der Fensterfront vorbeilief, sah er aus dem Augenwinkel und für einen Augenblick aus wie der Mann aus dem Hotel. Sei nicht albern, dachte sich Irene und fühlte in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel. Sie zog ihn heraus, wog ihn in der Hand, und als hätte sie noch nie zuvor einen Schlüssel gesehen, besah sie sich die Zacken, das Metall, die Löcher und Kanten. Dann steckte sie den Schlüssel sorgfältig in die Tasche zurück, als wisse sie nichts damit anzufangen, und lief einfach an ihrem Haus vorbei. Ihre Beine machten das, und Irene gab sich geschlagen, sie leistete keinen Widerstand gegen das, was ihr Körper mit ihr vorhatte. Schnell war sie hinter einer Straßenecke verschwunden, und es kam ihr für einen Augenblick so vor, als sehe sie sich selbst hinterher, immer einen Moment zu langsam, zu unentschlossen folgte sie ihrem Körper nach.
6. Berlin. Früher.
Stephan saß drei Reihen weiter vorn, mittig. Irene sah, wie er Notizen machte. Er war Linkshänder. Es sah ungewohnt aus, wie er den Kugelschreiber hielt, seine Finger griffen irgendwie anders, sein Arm war in einem eigenartigen Winkel vom Körper gestreckt. Hin und wieder sah er auf, in Richtung der Dozentin, die sich bemühte, den Unterschied zwischen Phonemen und Allophonen zu erklären. An der Tafel stand ein wüstes Gekritzel aus Lautschrift und Fremdworten. Irene schrieb einige davon ab, Stephan vielleicht auch. Sicher wusste er, was sie bedeuteten und konnte mit den Lautschriftzeichen etwas anfangen, mit dem umgedrehten e und einem durchgestrichenen l, mit den Längenzeichen und Runen, die man heute eigentlich nur noch aus dem Isländischen kennt, und auch das vermutlich nur, wenn man für Sprachen ungewöhnlich viel übrig hat. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie stellte sich vor, wie er der Dozentin direkt ins Gesicht sah. Konzentriert. Interessiert.
Auf Irenes Knien lag ein Buch. Ihr Blick wanderte vom Pult vorn über die Tafel durch die Sitzreihen hinaus aus dem Fenster, hinein zu ihrer Sitznachbarin, hinab auf ihr Buch und wieder zu Stephan.
Die Vorlesung diente der Einführung in die Sprachwissenschaft, und besuchen musste sie jeder, der im ersten Semester in Germanistik eingeschrieben war. Irene war ein Jahr älter als die meisten, jedenfalls als die Frauen, aber die waren hier im Hörsaal ohnehin in der Überzahl. Sie hatte ein Jahr später angefangen mit dem Studium. Während die Jungen aus ihrer früheren Schulklasse Zivildienst machten oder ihren Wehrdienst leisteten und die Mädchen studierten, mit ihren Freunden zusammenzogen oder ein Jahr im Ausland verbrachten, wurde Irene anderswo erwachsen.
Wenn sie gefragt wurde, was sie in dem Jahr zwischen Abitur und Uni gemacht hatte, erzählte sie die Geschichte jedes Mal ein wenig anders, nicht weil sie etwas vertuschen wollte oder sich für ihre Untätigkeit schämte, sondern weil sie es selbst nicht genau wusste. Meist sagte sie einfach, dass sie noch nicht sicher gewesen sei, was sie studieren wolle, und das Jahr gebraucht habe, um sich zu orientieren. Das war plausibel und leuchtete den meisten Menschen sofort ein, dabei war sie nach diesem Jahr viel orientierungsloser als zuvor. Sie war nach Berlin gezogen, hatte gejobbt, war gereist, hatte sehr oft gar nichts gemacht und hatte Timo kennengelernt. Er erzählte ihr von Japan, immer wieder. Er wusste viel, hatte das Land studiert, an der Universität und auf Reisen. Sie tat, als könne sie das nicht beeindrucken. Sie hatte sich verliebt und zugelassen, dass er sich auch verliebt. Nur ein kleines bisschen. Ihre Liebe war eine zögerliche, zurückweichende; leise und ängstlich kamen sie einander nahe, um sich gleich darauf wieder voneinander zu entfernen. Für jeden Schritt, den sie sich auf ihn zubewegte, wich er ein kleines bisschen vor ihr zurück. Wenn er ihr dann plötzlich mehr Nähe zugestand, verschloss sie sich vor ihm. Anfangs wunderte sie sich, wie wenig ihr das ausmachte. Aber Irene ahnte, dass ihrer beider Furcht damit zusammenhing, dass sie einander sehr ähnelten. Dass sie beide zu viel schwiegen und zu viel allein waren, zu viele Geheimnisse hatten und dass sie beide dazu neigten, zu verletzen, zu verlassen und zu lügen – ohne es zu wollen, sicherlich. Aber sie gaben sich auch keine große Mühe, es zu verhindern.
Dann hatten sie sich schnell und ohne dass es sonderlich kompliziert gewesen wäre wieder auseinandergeliebt. Für Irene war das beinahe eine Erleichterung gewesen, ein ganz logischer Schritt. Für Timo wohl auch: Zu leiden schien er nicht, und glücklich sah sie ihn ohnehin selten. Es schien keinen Unterschied zu machen, ob sie zusammen waren oder nicht. Ganz verloren gegangen waren sie einander nie.
Wenn Timo in diesem einen Jahr eine neue Freundin hatte, oder zumindest eine Aussicht darauf, dann trafen er und Irene einander heimlich. Meistens in Irenes Wohnung. Er blieb selten länger als ein, zwei Stunden, über Nacht blieb er beinahe nie. Sie schliefen miteinander, danach redeten sie. Leise, flüsternd, mit geschlossenen Augen erzählten sie einander ihre Pläne und wovor sie Angst hatten, was sie erlebt hatten, was schiefgelaufen war und was nicht. Nie fragte sie nach den Frauen, die er mit ihr betrog. Timo fragte nie, ob sie auch jemanden hatte, und sie sagte nie, wenn es so war. Sie lag in seinem Arm, immer gleich, ihr Kopf an einer Stelle in seiner Armbeuge vergraben, die sich anfühlte, als sei sie extra für Irenes Kopf gemacht, und in diesen Augenblicken gab es auf der ganzen Welt nur sie beide. Hatte er niemanden, verschwand er, manchmal für Wochen. Wenn Timo anrief, war sie für ihn bereit, räumte die Wohnung auf und wartete auf sein Klingeln. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb das so war, aber es wurde nicht langweilig, egal wie oft ihr Ritual sich wiederholte, und sie war nie beunruhigt, wenn er länger nichts von sich hören ließ. Weil sie sich auf ihn genauso verlassen konnte wie umgekehrt.
Kurz bevor die Frist für die Bewerbung um Studienplätze abgelaufen war, hatte sie das Formular zur Einschreibung der Uni ausgefüllt und ohne lange nachzudenken ein Kreuz bei Germanistik gemacht. Es erschien ihr naheliegend. Lesen war das einzige, das sie wirklich gut konnte. An ihrem ersten Tag an der Uni lud Timo sie zum Essen ein, er schien stolz zu sein, Irene wusste nicht worauf.
»Sag mal, hast du vielleicht neulich in der Einführungsvorlesung mitgeschrieben? Ich habe meine Notizen verloren, und nun weiß ich nicht, wegen der Klausur am Ende, und –«
Stephan nickte. Irene lächelte. Sie hatte ihn zwischen zwei Seminaren auf dem Flur gesehen, er stand allein. Ein wenig verloren. Sie hätte nicht gedacht, dass sie den Mut aufbringen würde, ihn einfach so anzusprechen, und als sie es dennoch tat, konnte sie nicht glauben, wie leicht das war. Sie redeten über die Kurse, die sie gemeinsam besuchten. Stephan riss ein paar Seiten aus seinem Block und gab sie Irene. Seine Schrift war schön. Die Buchstaben neigten sich nach rechts und waren ganz schmal. Sie standen dicht beieinander, berührten sich, man konnte gar nicht richtig sehen, ob Stephan den Stift beim Schreiben absetzte oder jedes Wort mit einem einzigen Strich schrieb.
Zu Hause sah sie die Zettel an. Es interessierte sie nicht, was in der Vorlesung gesagt worden war. Es war ohnehin schwierig, aus den Notizen eines anderen schlau zu werden, fand Irene, sie kamen ihr seltsam zusammenhanglos vor. Seine Schrift in ihrer Wohnung aufzubewahren, seine Gedanken, die Sätze, die er aufgeschrieben hatte – Irene erschien das ungeheuer intim. Kein Anfang von irgendetwas, nichts Flüchtiges, sondern eine ganz große Sache. Etwas Bedeutsames. Als hätten Stephans Aufzeichnungen und ihre Wohnung sich längst auf eine innige Beziehung miteinander eingelassen. Sie legte die Blätter auf den Küchentisch. Die Platte hatte sie zuvor abgewischt und achtgegeben, dass sie ganz trocken war.
»Es tut mir leid«, sagte Irene. »Wir können uns eine Weile nicht mehr sehen. Ich habe jetzt auch jemanden, er heißt Stephan.«
Sie lächelte. Es war ein gutes Gefühl, beinahe als ob es automatisch wahr würde, wenn man es nur ausspricht. Timo war am anderen Ende der Leitung; er schwieg ein wenig, dann sagte er irgendetwas, lange dauerte das Gespräch nicht.
Dass aus Stephan und ihr nichts wurde und dass sie Timo sehr wohl und sehr bald wiedersah, wusste Irene in Wahrheit genauso gut wie er, zumindest ahnte sie es. Aber für einen kurzen Moment sah sie alle Möglichkeiten vor sich. Stephan war eine davon. Mit jemandem wie ihm könnte alles anders sein. Sie könnten in seiner WG gemeinsam kochen, gemeinsam lernen. Auf ihrem Bett liegen, nebeneinander, und die Spinnweben an der Decke anschauen. In der