Das Zeichen für Regen. Jana Volkmann
tanzen, schlafen, arbeiten. Zusammen zum Supermarkt gehen, Arm in Arm. Seine Socken mit ihren Strumpfhosen zusammen in die Waschmaschine stecken. Die Stirn runzeln, streiten und schweigen. Sich allein fühlen, wenn der andere neben einem schlief und man selbst wach lag. Gewöhnlich sein, so gewöhnlich, dass es fast schon wieder kunstfertig wäre, so ein Leben. Beinahe zum Lachen, wie ernst es ihnen miteinander sein könnte.
Ein paar Tage lang blieb alles offen, so viele Leben lauerten auf sie, schienen plötzlich greifbar. Während sie sich durch ganze Universen voller besserer, anderer Welten träumte, ging vollkommen an ihr vorüber, dass Stephan nicht von sich hören ließ. Sie vergaß ihn beinahe, so sehr war sie damit beschäftigt, sich ein gemeinsames Leben mit ihm vorzustellen.
Dann sah Irene ein, dass er sie nicht wollte, dass er ihre Nachrichten in seiner Mailbox nicht übersehen hatte und dass es keine Nachlässigkeit oder Unaufmerksamkeit war, dass er im Café des Instituts nicht an ihren Tisch kam, sondern sich zu Vanessa setzte. Und dass die Möglichkeiten, die sie hatte, nicht so zahllos waren, wie sie gedacht hatte.
Vanessa hatte nun ein paar Möglichkeiten.
Sie saß neben Stephan in einem der Seminare. Nie hatte es so ausgesehen, als würden die beiden einander auch nur wahrnehmen. Aber wie sie dort ihren Kaffee tranken, aufgebracht redend, war es auf einmal ganz klar. Vanessa war anders, aufgeschlossen, Irene fand sie weder besonders hübsch noch besonders begehrenswert, aber ihre Wachheit, ihr hastiges Reden und ihr bedingungsloses Interesse für irgendwas, das mit dem Studium zusammenhing, das alles hatte etwas Rührendes. Stephan drehte zwei Zigaretten und legte eine davon vor Vanessa auf den Tisch. Sie nahm sie, ohne den Blick von Stephans Gesicht abzuwenden, und als sie aufstanden, fiel Irene auf, wie ähnlich ihre Bewegungen waren. Es war kein bisschen erstaunlich, dass sie einander mochten. Viele waren so, verliebten sich in die, die ihnen selbst am meisten glichen. Irene hatte große Zweifel, dass Stephan und Vanessa ihr Glück begriffen. Sie hätte sich gern für ihn gefreut. Es gelang ihr nicht.
Timo stellte keine Fragen, als sie nach einer Weile doch wieder vor der Tür stand, und sie war dankbar dafür. Er war auch nicht böse, obwohl unangemeldete Besuche eindeutig gegen ihre Regeln verstießen. Sie hatte Stephans Namen nie aus seinem Mund gehört. Irene fragte sich, ob das nur aus Desinteresse so war oder ob er vielleicht begriff, dass es besser war, die Sache so bedeutungslos wie möglich aussehen zu lassen. Manche Namen waren gefährlich, sie auszusprechen glich einer Geisterbeschwörung.
Sie hielt es noch eine Zeit an der Uni aus, aber sie gab acht, dass etwas wie mit Stephan nicht so bald wieder passierte. Sie studierte vor sich hin, verzettelte sich, besuchte Kurse, die sie nicht belegen musste, die sie aber interessant fand, und machte nur ab und zu mal einen Schein, den sie tatsächlich brauchen konnte. Es kam ihr vor, als säßen jede Woche neue Leute in ihren Seminaren und Vorlesungen, da war kaum jemand, den sie wiedererkannte. Zu Referaten ließ sie sich vom Arzt ein Attest ausstellen und spielte an solchen Tagen tatsächlich krank, blieb im Bett liegen, las in abgegriffenen Taschenbüchern und schaute Filme, trank Ingwertee und aß alles, was sie im Kühlschrank hatte. Niemand erwartete von ihr, dass sie mit dem Studium fertig würde. Oder dass sie sich etwas einfallen ließe für die lange Zeit danach. Ihrer Mutter war schon rätselhaft genug, dass sie überhaupt eingeschrieben war, sie stellte keine weiteren Fragen. Worte wie »wann« und »endlich« gingen ihr noch seltener über die Lippen als andere. Ihre Mutter war so geduldig, dass es einen rasend machen konnte. Irene wusste, dass das kein Wohlwollen ihr gegenüber war, sondern eher eine logische Folge der allgemeinen Teilnahmslosigkeit, mit der sie der Welt begegnete. Timo dagegen war weniger geduldig, hatte aber schnell gelernt, dass Irene Fragen nach ihrem Fortschritt, nach ihren Plänen und Aussichten immer unangenehm waren, egal wie vorsichtig sie formuliert waren. Die Leute, die mit ihr im Hörsaal saßen, begriffen nicht, dass sie sie längst in allem überholt hatten. Und falls doch, war es ihnen egal genug, nicht davon zu sprechen. Als ihre Kommilitoninnen gerade mit dem neunten Semester begannen, buchte sie ein Ticket nach Ōsaka.
Timo sagte auf dem Weg zum Flughafen kein Wort. Er hatte darauf bestanden, sie mit dem Auto dort hinzubringen, dabei fuhr er so selten, dass das Bild von ihm am Lenkrad überhaupt nicht zu Irenes übrigen Timo-Erinnerungen passte. Es war schwer zu sagen, ob er sich sehr aufs Fahren konzentrieren musste oder ob er nicht sprach, weil ihm nichts einfiel. Auf dem Weg in Richtung Tegel veränderte die Stadt ihr Gesicht, wurde hier und da grüner. Sie überquerten einen Fluss, wahrscheinlich die Spree, vielleicht die Havel. Irene hatte diesen Teil des Stadtplans nicht im Kopf, dafür war sie zu selten von hier weggeflogen. An der Ampel machten sie neben einem Taxi halt, in dem eine junge Frau mit einem Mädchen saß. Das Kind schaute Irene an, Irene winkte, sie winkte zurück. Am Handgelenk des Mädchens baumelte ein zu großes Armband, sein Gesicht sah ernst aus, traurig und viel zu erwachsen. Irene blickte dem Taxi hinterher, als die Ampel endlich auf Grün schaltete.
Als sie durch das Gate musste, umarmte Timo sie fest und reglos. Er streichelte nicht ihren Rücken, wie er es sonst zum Abschied machte. Hielt den Atem an, als wolle er so die Zeit anhalten. Irene konnte er nicht halten, nicht in Berlin, nicht bei sich. Er sagte nicht, dass er sie vermissen würde, und sie traute sich nicht zu fragen, ob es so wäre. Vielleicht sagte er etwas anderes, Irene konnte sich später nicht erinnern, ob sie noch gesprochen hatten am Flughafen, sie spürte nur noch die Umarmung, den Druck seiner Hände auf ihren Schultern. Wie fremd sie sich plötzlich anfühlten. Wie weit sie schon von ihm entfernt war, noch ehe das Flugzeug abhob.
7. Kyōto. Heute.
Irenes Schritte waren hastig und weit. Sie lief, als habe sie ein Ziel, dabei wusste sie nicht einmal, was sie hier sollte, hier auf der Straße, hier in dieser Stadt, in diesem Leben, das nur durch Zufall ihres geworden war. Während ihre Füße weiter und weiter liefen, dachte Irene an Timo. Er hatte ihr ein paar Mal geschrieben. Nicht immer hatte sie geantwortet. Sein letzter Brief war ein paar Wochen her, aber es fiel ihr schwer, sich an seine Worte zu erinnern. Nichts von Belang schien ihm passiert zu sein, jedenfalls nichts, das er Irene hätte mitteilen wollen. Er hatte ihr einmal ein Buch geschickt, die Japan-Essays von Claude Lévi-Strauss. »Die andere Seite des Mondes« hieß es, und Timo hatte wenig später noch eine Nachricht hinterhergeschickt, um zu fragen, ob es ihr gefiele. Aber das konnte auch schon im vorletzten Brief gewesen sein, oder davor irgendwann. Irene versuchte, sich an seine Hände auf ihren Schultern zu erinnern oder an das Gefühl, wenn sie ihn im Bett umarmte, von hinten, so dass ihre Brüste an seinem harten, glatten Rücken ein wenig plattgedrückt wurden. Sie konnte sich an sein Gesicht nicht mehr erinnern. Es wurde in ihrer Vorstellung zu dem Gesicht des Mannes aus Zimmer 1009, an das sie sich auch nicht erinnerte. Sie zog die Schuhe aus und lief barfuß weiter. Der Asphalt war glatt und schmutzig, die Sonne untergegangen, und plötzlich stand sie mitten in Gion, so wie alle Touristen, egal ob sie aus Hokkaido oder Malmö angereist waren, irgendwann in Gion landen, und die Stadt glitzerte und duftete nach altem Holz.
Gion, versprachen die Reiseführer, solle einem das alte Japan zeigen, ein authentisches Vergnügungsviertel, alt und neu, tot und lebendig zugleich, vielleicht weder das eine noch das andere. Hier konnte man Geishas beobachten, die aus Taxis stiegen, zu einem Termin liefen, mit kleinen, vornehmen Schritten und auf hölzernen Sohlen. Frauen liefen in traditionellen, kunstvoll gefertigten Gewändern umher. Der schwere Brokat war von Ornamenten geziert, die Irene Angst einjagten, weil sie fürchtete, sich in den Mustern zu verlieren, wenn sie zu lange hinsah. Touristen hatten sich ihre Kameras ums Handgelenk gehängt, um keine Gelegenheit zu verpassen; jeder wollte einen solchen Blick festhalten, auf einen Kimono, auf den obi, auf die kunstvollen Frisuren der maiko, auf das Japan, das sie in Filmen von Akira Kurosawa und in Büchern über Geishas und Samurai vorgefunden hatten und das von Downtown Kyōto genauso weit entfernt war wie von Köln, wenn man nicht genügend Zeit hatte, um gründlich genug danach zu suchen.
Sie war ein paar Mal in Gion gewesen und hatte geglaubt, schon alles gesehen zu haben. Den Schrein, der dem Distrikt ein Ende setzte und ihn von der profanen restlichen Stadt abgrenzte, hatte sie sich angesehen, und sie hatte sich in den schmalen Sträßchen von einer Begeisterung fortreißen lassen, die ihr eigentlich fremd war – einer Begeisterung