Signaturen der Erinnerung. Thomas Ballhausen
wird zur Übertragung, der aus der alltäglichen Bewegungsbeliebigkeit ausschert. Das choreografierte Subjekt strukturiert den Raum, bewegt sich anhand vorgegebener Codes, es stiftet die Umgebung, Bindungen und Verbindlichkeiten. Aufbauend auf der Kondition des Athletischen und Artistisch-Künstlerischen, wird der Körper zum Instrument, zum Faktor der Situation. Aus dem grundsätzlich rhetorischen Gefüge aus ausgestaltender elocutio und darbietender actio wird nicht nur ein Repertoire herausgeschält, das mit seinen Zugängen ein Werk erneuert; vielmehr kann auch ein gänzlich neues Werk geschöpft und vorgestellt werden. Aus dem produktiven Abhängigkeitsverhältnis zur Choreografie – oder der Problematisierung desselben – kann der Körper mit seinen Bewegungen im Raum tänzerisch vorausgehen, er kann Bilder vor-stellen. Aus einer Außenperspektive eröffnet sich mit dem (modernen) Tanz deshalb wohl auch die paradox anmutende Herausforderung, sich mit dieser Kunst ganz in den Dienst der Vervollkommnung zu stellen – und doch auch spielerischen Umgang mit dem aristotelisch zu lesenden Pathos zu pflegen. Durch diesen gefühlsbetonten Appell kann die Integrität des Tänzers und seiner Schritte – also: die Sache selbst – sinnvoll ergänzt werden. Die Intensität, die dabei in den Augenblick gelegt wird, trägt neben der erwähnten Strukturierung auch zu einer Veränderung der Räume bei, in denen der Körper sich bewegt. Welt, Bühne und Leinwand geraten in eine Austauschsituation, Strategien der Permutation erzeugen Entwürfe, die in ihrer Dimension einer klassischen Bühnensituation mitunter gar nicht mehr entsprechen und in ihrem Streben nach Verwirklichung den Film förmlich (auf-)fordern. Es ist also für den Betrachter nicht zuletzt auch die Vertauschung, in der sich die eingangs betonte Ausnahmesituation der Körper als Anknüpfungspunkt anbietet: sich also zu fragen, ob man lieber ein Tänzer oder ein Marschierender wäre.
1.4.4 Sehen (lassen)
Die Option auf die Erweiterung der Möglichkeiten soll und muss bei all dem im sprichwörtlichen Blick behalten werden. Videotechnik und die entsprechende begleitende und sich weiter ausbildende Videopraxis seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts ist als eine solche Extension zu verstehen. Die Verschiebung durch Video als Format, als Produktions- und Rezeptionskonstituente sind schon in der Etymologie des Wortes begründet, meint videre doch zu sehen. Die nachhaltige Etablierung im Film- und Kunstkontext ist nicht zuletzt dadurch zu erklären, dass mit Video ein Medium zur Verfügung steht, in dem sämtliche künstlerische Disziplinen und Ausprägungsformen (und noch weit mehr) aufgenommen und verarbeitet werden können. Mit dieser Durchlässigkeit, dem Sperren gegen vereinheitlichende bzw. vereinnahmende Definitionen und der Ausrichtung auf Reproduzierbarkeit sind auch schon charakteristische Phänomene dieser Kunstform genannt, die auf einem eigenständigen Vokabular fußt. Die Prozesse des Erzeugens und Edierens lassen immer wieder an die gestalterischen Schritte des Aufnehmens, Speicherns, Bearbeitens, Kombinierens und eben auch Präsentierens denken. Bedingt durch die Synchronizität in Aufnahme und entsprechender Speicherung ergibt sich eine handliche Dynamik, eine Geste der Unmittelbarkeit im bewussten künstlerischen Umgang mit der zeitlichen Dimension – ein Umstand, der sowohl für die primäre Erfassung als auch für die jeweilige Präsentationsform Gültigkeit hat. Video erlaubt dem Medium Film ein erweitertes Vorrücken im Rahmen kunstgestützter Recherche und im Bereich der Bildenden Künste, insbesondere bei installativen Arbeiten. Geprägt durch den von Veränderungen und Wandlungen bestimmten Charakter des Mediums ist einerseits ein Abhängigkeitsverhältnis zum Stand der Technik und ihrer gesellschaftlichen Implementierung bedingt; die gleichen Eigenschaften aber, die ein technologieimmanentes instant feedback erzeugen, lassen andererseits erneut den Körper und seine physischen und psychischen Beschaffenheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Das Ausbrechen aus klassischen Konzepten ist dabei ein wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Wirkungsstrategie. Zur vollen Entfaltung des ästhetischen Arsenals innerhalb einer auf Intermedialität und Interdisziplinarität ausgerichteten medialen Strategie des Verschaltens und Verknüpfens gehören nicht nur die Darstellungsmittel, sondern auch die mitgemeinten Präsentationsformen. An die Seite des white cube tritt die film- und videogerechte black box, die die künstlerischen Potentiale des dargebotenen Mediums unterstützen, wenn nicht sogar gänzlich hervorbringen soll. Um Juliane Rebentisch zu zitieren:
„Das geringste Problem hierbei ist allerdings die buchstäbliche, das heißt körperliche Immobilisierung des Zuschauers im Kino, von der Boris Groys meint, sie schon führe zwangsläufig zu intellektueller Immobilität. Denn die Möglichkeit einer aus der Latenz der Produktivität einer ästhetischen Erfahrung freigesetzten Bewußtseinstätigkeit ist nicht an die körperliche Bewegungsfreiheit des einzelnen Betrachters gebunden. Sie ist selbstverständlich prinzipiell auch im Kino möglich. Dafür steht nicht nur der Experimental- oder Kunstfilm. Die Bewußtseinstätigkeit des Zuschauers kann sich prinzipiell auch im klassischen Erzählkino so steigern, daß die Filmerfahrung vom traumähnlichen Zustand der Unterhaltung schließlich in eine qualitativ andere, eine ästhetische Erfahrung umschlagen mag. (…) Was dadurch, daß der Betrachter der Installation Beziehungen zu dieser beziehungsweise zwischen deren Elementen auch durch seine körperliche Aktivität herstellt, aber in besonderer Weise reflexiv thematisch wird – also dadurch, daß er sich in ihr bewegt und aus verschiedenen Perspektiven schaut –, ist der generell selbstreflexiv-performative Charakter der in unserem Sinne ästhetischen (Film-)Erfahrung. Wie in der Konfrontation mit der Minimal Art scheint auch in der Filminstallation dieser Grundzug ästhetischer Erfahrung besonders hervortreten zu können.“ (Rebentisch, 2003, 189f.)
Hier spiegelt sich die Aufforderung an das gesamte Publikum zur Teilhabe und Interaktivität, die deutliche Einladung an den Vereinzelten zur intellektuellen und körperlichen Begehung des skulpturalen Raum(bild)s. Das Bild selbst, das von vermeintlicher Immaterialität geprägt ist – spart man archivtheoretische Aspekte an diesem Punkt aus –, verbindet sich in seinem Kippen von Zeitlichkeit in Räumlichkeit spielerisch mit drei konzeptuellen Strängen: Es sind die Stränge des eigentlichen künstlerischen Akts, des Kontextes und schließlich der zuvor schon erwähnten, jeweiligen Aufführungsform. In dieser Grenzsituation entstehen neue Bildformen, die produktive Wechselbeziehung mit dem klassischen Filmmedium wird durch das reflexive Vermögen des Videos erneuert und auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge hin ausgebaut. Die Reflexion reicht dabei von der simplen Abrufbarkeit über die Installation, bis hin zur hautnahen Performance.
1.4.5 Freiheit vs. Tugend
Die (bissige) Zeit taucht im Rückspiegel auf, die Geschichte im past imperfect – so wie sie uns im Film erscheint, so wie sie im Kino wiederaufgeführt wird. Die Wirklichkeit tritt uns als Geflecht entgegen, die ihr entgegengesetzte Widerständigkeit steht in einem Verhältnis zur Macht, aus der sie sich schöpft. Nicht weniger Geflecht als die sogenannte Realität, ist diese Widerständigkeit kein monolithisches Massiv, sondern eher eine Vielzahl von Punkten, Aktionen und eben auch Filmen. Was also ist das Schicksal im Nachbeben, was ist das Schicksal der Bilder, die uns einzuholen drohen, uns erinnern? Utopia kann – unabhängig von ihrer Anschaulichkeit, die Diedrich Diederichsen (Diederichsen, 2008) prägnant herausgearbeitet hat – nicht uneingeschränkt eingelöst werden, es kann immer nur eine Richtung, eine Zielvorgabe sein. Dieses Potential des Uneingelösten sollte zu unserem Vorteil gewendet werden, es kann im Rahmen einer Verlebendigung der Bilder zum Einsatz kommen. Nicht nur die Künste haben einander viel zu geben, Film als ständig neu zu erschließendes Mysterium hat der Gesellschaft etwas zu geben, er gibt es ihr freimütig und manchmal eben auch frech. Sich der die Künste betreffenden Debatte Freiheit vs. Tugend zu stellen, macht schließlich auf zweierlei aufmerksam: Einerseits, dass wir wohl nicht leicht davonkommen werden; andererseits, dass wir die Hände frei haben, dass wir also Spuren zu sichern, zu denken und zu fragen haben: Ein kritischer Blick und gefährliche Fragen sind unsere Instrumente, unser (hoffentlich) intellektueller und intelligibler Werkzeugkasten, der das Archiv zum Ort der Wertschöpfung, zur Fabrik des Denkens und Träumens machen kann. Solange wir etwas bewegen können und wollen, wir als Filmmenschen der Öffentlichkeit und dem Medium verpflichtet sind, werden wir auch der Zweiwertigkeit der Bilder – um einen Gedanken von Jacques Rancière aufzunehmen – gerecht werden können: