Signaturen der Erinnerung. Thomas Ballhausen
Hinsicht. Sie teilen sich diese Funktion mit anderen Institutionen, mit Bibliotheken, Museen, der lebendigen Tradition, kurz mit allem, was Erinnerung stiften und bewahren kann. Teil sind sie aber auch in einem anderen Sinne. Archive bewahren den schriftlichen Niederschlag von Geschehenem, der, wie es in einer gängigen Definition heißt, bei Personen oder Institutionen in Ausübung ihrer Funktionen erwächst“ (Auer, 2000, 57).
1.3.3 Zum Beispiel der Filmarchive
Filmarchive waren in ihrer Urform, also während der frühen Jahre der Kinematografie, zumeist von Einzelpersonen getragen worden. Doch schon in der Prä-Kino-Zeit gibt es den Wunsch nach der dauerhaften Aufbewahrung: So fordert W. K. L. Dickinson, der Miterfinder des Kinetoskops, bereits 1894 eine Möglichkeit zur Erhaltung der von ihm projizierten vitalized pictures (Bottomore, 2002, 86). In Europa wurde ab Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt auch auf den Wert der Bewegtbilder aufmerksam gemacht. So brachte die Fachzeitschrift Kinematographische Rundschau bereits im Mai 1907 den Wiederabdruck eines Artikels des Berliner Tagblatts, in dem erstmals recht ausführlich die Vorteile sogenannter „Kinematographischer Archive“ vorgestellt wurden:
„Ernst v. Bergmanns Stimme ist der Nachwelt erhalten geblieben. Wenige Wochen vor seinem Tode hat der grosse Gelehrte ein Stück aus seiner Familienchronik in ein Grammophon hineingesprochen, und man ist nun imstande, immer wieder Ernst v. Bergmanns Stimme zu hören, der der akzentuierte baltische Dialekt eine so eigenartige Färbung gab. Um wieviel interessanter und vor allem für die Wissenschaft bedeutungsvoller wäre es, wenn man eine Operation Bergmanns kinematographisch festgehalten hätte, wenn in späteren Zeiten die Studenten der Medizin noch sehen könnten, wie der Meister der Chirurgie seinen Eingriff in den kranken Körper vollzog. Es gibt bereits in mehreren Staaten phonographische Archive, in denen die Stimmen vieler Grosser für die Nachwelt aufbewahrt werden. Es soll nun hier die Anregung gegeben werden, in entsprechender Weise auch kinematographische Archive einzurichten, in denen, wie dort die Grammophonplatten, Films, auf denen wichtige und interessante Ereignisse in lebendiger Beweglichkeit festgehalten sind, aufbewahrt werden. Der Phonograph ist über das Spielzeug bereits hinausgewachsen, und auch der Kinematograph hört jetzt auf, nur ein kurioser Apparat zu sein, dessen Wirksamkeit man im Variété oder in einem eigens zu diesem Zweck eingerichteten Theater bestaunt oder belacht. Das bewegliche Lichtbild ist vielmehr bei richtiger Auswahl der Objekte imstande, viel Aufklärung in der Gegenwart zu verbreiten und ausserordentliche Belehrung in die Zukunft zu tragen. Für die Kulturgeschichte würde mit dem kinematographischen Archiv eine neue Ära anbrechen. Wie blass sind die schönsten Beschreibungen vergangener Zustände gegenüber ihrer Aufbewahrung im lebendigen Bild. Wie heute auf einer grossen Station ein Zug abgefertigt, wie die Feuerwehr arbeitet, wie die Leipzigerstrasse an einem Geschäftsnachmittag aussieht – alle diese und ähnliche Momente aus der Entwicklungsgeschichte kann man den kommenden Geschlechtern durch den Kinematographen lebendig erhalten. Solche Aufnahmen zum Beispiel in Berlin systematisch durchgeführt, könnten noch nach Jahrhunderten ein völlig klares Bild von dem gegenwärtigen Zustand der Reichshauptstadt geben und damit den Forschern unendlich wertvolles Material in die Hände liefern. Für die Wirksamkeit des kinematographischen Archivs gibt es, wenn es ernsthaft angegriffen wird, gar keine Grenzen. Und sein Nutzen liegt so klar zutage, dass die Anregung wohl nur gegeben zu werden braucht, um geeignete Kreise dafür zu interessieren“ (o.A., 1907, 3).
Weiterführende Ansätze und Ideen zur möglichen Archivierung von Filmen formulierten der in Paris beheimatete Pole Bolesław Matuszewski und sein deutscher Kollege Hermann Häfker. Beide gelten zu Recht als Pioniere auf diesem Gebiet, die auf die gesellschaftliche Notwendigkeit der Aufbewahrung filmischer Quellen aufmerksam machen wollten. War Matuszewski, der bereits 1898 sein Buch Une nouvelle source de l’histoire – création d’un dépôt cinématographie historique vorlegte, noch mehr darauf bedacht, Film als historisch wertvolle Quelle zu etablieren, formulierte Häfker in seiner 1915 erschienenen Schrift Das Kino und die Gebildeten bereits mögliche Aufgaben und Probleme noch einzurichtender Archive und Depots. Seine klar formulierten Strategien waren vor allem Konzepte der Bewahrung, die, gemessen am technischen Stand seiner Zeit, als durchaus fortschrittlich gelten können. Während des Ersten Weltkrieges stand aus naheliegenden Gründen vor allem der physische Schutz des Materials im Vordergrund und weniger ein Ausbau der bestehenden Sammlungen. Die Überlieferungssituation dieser historischen Phase, mit der die Filmarchive konfrontiert sind, ist eine äußerst schwierige, wurden doch kurz nach dem Ende des Krieges in den besiegten Ländern umfangreiche Film- und Dokumentenbestände – vor allem aus den Bereichen der kriegsspezifischen (Film-)Berichterstattung – vernichtet.
Bis zum Ende der Zwanzigerjahre kommt es zur Einrichtung von Abteilungen für audio-visuelle Medien innerhalb bestehender, etablierter Institutionen und auch zur Gründung neuer, meist staatlicher Stellen mit Schwerpunkt auf dem Medium Film. In den Dreißigerjahren werden in allen klassischen filmproduzierenden Ländern Filmarchive eingerichtet, die zugleich die ersten Mitglieder des auch heute noch bestehenden Dachverbandes der Filmarchive, der Fédération Internationale des Archives du Film (FIAF), sind. Die FIAF bestand bei ihrer Gründung 1938 aus nur vier Mitgliedern, heute zählt sie über 120 Mitglieder aus mehr als 60 Ländern. In der Phase vor dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Anlegung von umfangreichen Sammlungen, die dort ansetzen sollten, wo die Limits privater Sammlungen deutlich wurden. Diese Kollektionen wurden primär ohne Auswahlverfahren aufgebaut; parallel dazu konzentrierte man sich in den Filmarchiven während der Zwischenkriegszeit auf die Rettung von (Spiel-)Filmkopien, wenngleich auch unter den Einschränkungen einer überaus kanonischen Auffassung von Filmerbe und Filmgeschichtsschreibung. War während des Krieges ein weiterer Ausbau von Sammlungen über Grenzen hinweg praktisch unmöglich, kam es nach 1945 zum erneuten Aufbau von Archivstrukturen und einer Revitalisierung der FIAF. Besonders den Bemühungen dieser Institution ist es zu verdanken, dass der kulturelle Austausch zwischen den Ländern in Sachen Film, an dem sich Österreich nach der Gründung des Filmarchiv Austria 1955 rege beteiligte, wieder in Schwung kam. Auch jetzt zählt die Aufgabe des Networking zwischen den Archiven, neben Hilfestellungen zum Auf- und Ausbau von Filmarchiven, dem Abhalten von Kongressen und einschlägigen Weiterbildungskursen und der Veröffentlichung von Publikationen zu den zentralen Funktionen dieses Dachverbandes. In den Sechzigerjahren wirkte eine Generation von Archivaren, die auch mit filmgeschichtlichen Schriften hervortraten und erstmals eine lebendige Verbindung von Filmgeschichtsschreibung und Archivwesen demonstrierten. Umso verwunderlicher ist es, dass teilweise die gleichen Personen vehemente Vertreter einer klassischen Auffassung von Archivarbeiten waren, also Archivgut um jeden Preis schützen wollten – und sei es auch, die Bestände für die (wissenschaftliche) Öffentlichkeit schwer bis gar nicht zugänglich zu machen. Die damals aufkommende Diskussion um das Verhältnis zwischen dem Wunsch, einer öffentlichen Aufgabe nachkommen zu können und Archivbestände zu bewahren, ist auch heute noch ein wesentlicher Faktor in der täglichen Arbeit der (Film-)Archive. Als positiver Nebeneffekt soll bezüglich dieses Konflikts aber nicht unerwähnt bleiben, dass zu diesem Zeitpunkt erste tiefschürfende Analysen der Probleme sachgerechter Aufbewahrung von Filmbeständen durchgeführt wurden (Houston, 1994, 37ff.). Neben signifikanten Änderungen in den späten Siebzigerjahren ist für die weiteren Jahrzehnte zu bemerken, dass ein bewundernswertes Gleichgewicht zwischen den doch sehr unterschiedlichen Aufgabenbereichen gefunden werden konnte, das auch eine verstärkte Spezialisierung innerhalb der Archive nicht ausschloss.
1.3.4 Audio-visuelle Bestände
Audio-visuelle Medien zeichnen sich durch die Besonderheit aus,
„[…] natürliche Abläufe, physikalische Prozesse, in Form einer Abspielung zu überliefern und zu distribuieren. AV-Medien können nicht nur gedanklich-verbale Informationen übermitteln (z. B. als gesprochene Sprache), sondern auch – und das ist ihre einzigartige Fähigkeit – nonverbale Informationen auf rein apparativem Weg festhalten und wiedergeben“ (Hubert, 1993, 65).
So vielfältig die Qualitäten filmischer Materialien sind, so unterschiedlich sind auch die Bestände der damit befassten Institutionen: Film in all seinen Erscheinungsformen, also ediertes und